Kleinstaatlichkeit

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23 Dez. 2009 21:41 - 23 Dez. 2009 22:18 #1642 von Basileus
Admin hat uns ja neulich einen tollen Link zu zeitgenössischen historischen Karten gegeben.
Ich habe mir die Europakarten, vor allem des 18. Jh., einmal angesehen.
Man erkennt auf den ersten Blick deutliche Unterschiede zu den Karten heutiger Historiker über die damalige Zeit, speziell in Deutschland und Italien.

Ich gebe mal die Links zu 3 Europa-Karten des 18. Jh. (die erste 1705):
history-maps.ru/pictures/all_1/s_4_1/max_34/
history-maps.ru/pictures/all_1/s_4_1/max_21/
history-maps.ru/pictures/all_1/s_4_1/max_44/

Man vermißt den "Flickenteppich" heutiger historischer Karten.
(z.B. Putzger: Historischer Weltaltlas, für Europa 1740, oder auch die obige Karte von ron)
Das Land, das hier einfach Deutschland genannt wird (Allemagne auf der frz., und Germania auf der lat. Karte),
und auch Italien, sind nicht stärker zersplittert als der Rest Europas.

Detail-Karten, die jeweils ein Land beinhalten, sind auch auf der Website vorhanden.
Für Deutschland ist im Detail dann aber keine Aufteilung in Königreiche, Fürstentümer, Herzogtümer usw. vorhanden wie auf heutigen historischen Karten,
sondern eine Aufteilung in Reichskreise (Cercles):
history-maps.ru/pictures/all_1/s_4_2/max_16/

Das ist natürlich eine viel zentralistischere Beschreibung Deutschlands,
als man sie in heutigen Karten der damaligen Zeit anfindet.
Ganz so, als wäre Deutschland nicht mehr zersplittert gewesen als etwa Frankreich oder Spanien.

Auch wird Deutschland als "Kaiserreich Deutschland" (Empire d`Allemagne) bezeichnet,
und dessen Herrscher als "Empereur d` Occident ou d`Allemagne" = "Kaiser des Westens oder von Deutschland").
Von einem "Heiligen Römischen " Reich oder einem "Römischen" Kaiser ist hier keine Rede.

Ich habe den starken Verdacht, daß die Kleinstaaterei Deutschlands erst nachträglich nach dem Wiener Kongreß 1815
rückwirkend erfunden wurde.

Durch die "Napoleonischen Kriege" (was immer auch konkret passiert sein mag) und den Wiener Kongreß entstanden zwei starke deutsche Staaten:
Preußen (das später 1870/71 zum Deutschen Reich wurde) und Österreich-Ungarn,
sowie viele kleinere, unbedeutendere.
(Das sogenannte "Heilige Römische Reich" wurde aufgelöst und die Reichsinsignien verblieben in Wien.)
Diese hatten natürlich ein Interesse daran, daß alle glauben, diese erst entstandene Zersplitterung
sei immer schon dagewesen. Ansonsten hätten die Regionalfürsten mit Forderungen zu einer Wieder-Vereinigung zu rechnen (wie auch nach 1945).
Und sie erfanden sich wohl eine viel längere und ruhmreichere Vergangenheit als tatsächlich vorhanden war.
Das kennt man ja so von Adligen, auch aus anderen Ländern.
Auch das Ausland dürfte ein Interese an einem zersplitterten Deutschland gehabt haben, wie auch nach 1945.

Und diese Forderungen nach einer Vereinigung Deutschlands kamen tatsächlich während der gesamten nach-napoleonischen Zeit bis 1870/71.
Dies ist nur dadurch erklärbar, daß zuvor schon eine Einheit da war. Ansonsten kämen ja wohl kaum Bayern und Hamburger darauf, sich einen gemeinsamen Staat zu wünschen, wenn sie keine gemeinsame Kultur und Vergangenheit verbinden würde, und nicht nur ein lockeres Bündnis wie das "Heilige Römische Reich",
so wie uns die offizielle Geschichte weismachen will.

Der Name "Heiliges Römisches Reich" mag durchaus existiert haben, genauso wie der Titel "Römischer Kaiser",
aber diese dürften ebenso bedeutungslos gewesen sein wie der Titel "König von Jerusalem"
(einer von vielen Titeln des deutschen Kaisers bis 1815)
oder König von England (u.a. auch einmal Titel der spanischen Könige).

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30 Dez. 2009 04:58 #1651 von Scharlmanje

Ansonsten kämen ja wohl kaum Bayern und Hamburger darauf, sich einen gemeinsamen Staat zu wünschen

Ich wäre sehr überrascht, wenn die sich das tatsächlich gewünscht hätten, weder die Weißwurstfresser, noch die Saupreiß.

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07 Jan. 2010 00:04 #1731 von Basileus
Es ist natürlich auch eine andere Geschichtsdeutung (im Sinne von berlinersalon) denkbar.
D.h., die "nationalen" Könige haben immer eine Geschichtsdeutung nach zentralistischem Muster vorgetäuscht, obwohl in Wirklichkeit dezentrale Strukturen vorherrschten.
Sozusagen, um den Ruhm des Königs/Kaisers von Frankreich, England, Deutschland, Italien usw. zu erhöhen.

Als dann nach den "Napoleonischen Kriegen" nach 1815 Deutschland und Italien kleinstaatlich wurden und ohne gemeinsamen König/Kaiser,
war kein Grund für die Fortsetzung dieser Fälschungen mehr vorhanden.
Daher beschreibt man seitdem beide Länder im Rückblick so, wie sie immer schon waren, und in Wirklichkeit auch die anderen:
dezentral und "kleinstaatlich".

Aber in Wirklichkeit wohl noch dezentraler, als selbst die Provinz-Fürsten es einräumten.
Das müßte man man mal anhand von anderen Quellen als Landkarten verifizieren,
soweit man hier überhaupt Fälschungen von Originalen unterscheiden kann.

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07 Jan. 2010 12:02 #1739 von ron
ron antwortete auf Aw: Kleinstaatlichkeit
Grenzen darstellende Karten vergangender Zeiten sind m.E. immer Projektionen des jeweils aktuellen Denkens auf die vergangene Zeit.

Die Altmark gehörte beispielsweise zur Gänze der Mark Brandenburg an.
Hinsichtlich der kirchlichen Zugehörigkeit verlief mitten hindurch eine Grenze (entlang der Milde / Biese / Aland). Der westliche Teil gehörte zum Bistum Verden, der östliche zum Bistum Magdeburg.
Den Händlern der Hanse interessierte weder lehnsrechtliche noch die Kirchengrenze. Für sie war Lübeck zuständig. Ihr Reich (Handelsraum) reichte von Westphalen über Norddeutschland, Südschweden und Pommern, Preußen bis nach Nowgorod.
Naja - und die wenigen verbliebenen Katholiken und Juden hatten ihren Herrn wieder ganz woanders zu sitzen und würden eine Karte mit anderen Grenzen gezeichnet haben.

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29 Okt. 2011 15:09 - 29 Okt. 2011 21:13 #5699 von Basileus
Die Fälschung der deutschen Geschichte des 16.-19.Jh. wird nun offenbar auch von offiziellen Historikern thematisiert,
z.B. Johannes Burckhardt: "Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit". Gleich zu Anfang auf Seite 7 schreibt er:

Lange haben die drei Jahrhunderte zwischen den Jahren 1500 und 1800 keine gute Presse gehabt,
und immer noch wird das Reich deutscher Nation als ein nur noch in unzähligen Einzelsouveränitäten zerfallenes Monstrum hingestellt.
Eine Schauerlegende geht um von der deutschen "Kleinstaaterei",
die willige Kartographen des 19. und 20. Jahrhunderts nachträglich als "buntscheckigen Flickenteppich" illustrierten.
Dieses Negativbild vom unaufhaltsamen Niedergang des "Alten Reiches"
sollte als Kontrastfolie den unaufhaltsamen Aufstieg Preußens historisch legitimieren.
Kein Experte kann das mehr so vertreten, aber in Zeitschriften- und Fernsehserien wie in lernunwilligen Kompendien zur deutschen Geschichte
ist von der wissenschaftlichen Generalrevision des deutschen Geschichtsbildes noch nicht viel angekommen.


Siehe hierzu die oben von mir verlinkten Landkarten aus dem 18. Jh., die ein ganz anderes Bild zeigen als heutige historische Landkarten der damaligen Zeit !

Wenn also die Bildung eines Nationalstaates in Deutschland im 15.Jh. weitgehend parallel zu Frankreich, England und Spanien erfolgte,
können die Märchen von mittelalterlichen Wanderkaisern, denen alles gehörte (außer einem eigenen Märchenschloß), und die Kirchen, Klöster und Länder verschenkten,
nun wirklich nicht wahr sein. Ebensowenig natürlich die Märchen vom angeblich mächtigsten Kirchenfürsten der Welt, dem Papst in Rom,
der diese Märchenkaiser von 800-1452 gekrönt haben soll (als Erster wird vom Papst 754 Pippin der Kleine zum König gesalbt),
der aber nicht einmal eine standesgemäße Kathedrale besaß wie jeder Erzbischof dieser Zeit.

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13 Nov. 2011 15:34 - 13 Nov. 2011 15:37 #5830 von
antwortete auf Aw: Kleinstaatlichkeit
Nehmen Sie, lieber Basileus, sich doch mal irgend ein beliebiges Kirchen-Taufbuch oder herrschaftliches Gerichtsbuch von sagen wir dem Jahre 1650 aus irgend einem beliebigen der hunderttausenden Dörfer oder Städte des ehemaligen Heil. Röm. Reichs, wo JEDEN TAG alle Geburten, Taufen, Trauungen und Beerdigungen, oder Käufe und Verkäufe von Grundstücken, Höfen oder Häusern aufgezeichnet sind - täglich aufgezeichnet für Milliarden verschiedener Menschen vom Adel bis zum leibeigenen Pöbel - und entnehmen Sie daraus zu welcher Herrschaft und zu welcher Gerichtsbarkeit die jeweils genannten Personen konkret gehören!

Wenn Sie das von dutzenden regional verschiedenen Dörfern und Städten von den Alpen bis nach Dänemark machen, können Sie leicht die damaligen Herrschaftsverhältnisse rekonstruieren.

Oder drucken Sie sich bei Google-Books die hunderten verschiedenen Hof- und Staats-Handbücher aus, welche JÄHRLICH für alle Kleinstaaten erschienen sind, und deren gesamte mehrtausendköpfige Beamtenschaft enthalten, welche letztere Sie auch bei Überprüfung in den oben genannten handschriftlichen amtlichen Quellen wiederfinden, um sich aufs einfachste zu überzeugen welche Staaten im 18. Jahrhundert wirklich existierten!

Ist Ignoranz und Forschungsabneigung etwa ein Zeichen für historische Wissenschaft? Warum heißt diese Homepage so? Oder spielen wir hier aus Spaß an der Freude alle in dekadenter Weise etwas Lustiges am Computer, wie es uns gerade so einfällt?

Schade, dass die Geschichtskritik der 90er in diese Sackgasse verläuft ...

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13 Nov. 2011 17:21 - 13 Nov. 2011 17:37 #5840 von Basileus
@Berlichinger:
Ich nehme einmal an, daß Sie das, was Sie mir empfehlen, nicht selbst getan haben, nämlich die Quellen gesichtet und ausgewertet.
(Sollte ich mich da irren, wäre ich an Ihren Forschungsergebnissen sehr interessiert.)

In diesem Falle hätte es allerdings auch gereicht, die entsprechende Forschungsliteratur der letzten ca. 20 Jahre zu sichten.
Denn darin findet sich der von mir beschriebene Wandel im Geschichtsbild der frühen Neuzeit Deutschlands wieder.

P.S.: Falls Sie - wie mir scheint - überhaupt keie Ahnung haben, worum es hier geht:
Es geht um das Föderalismus-Konzept Deutschlands, das sich unter den Habsburgern seit dem Ende des 15.Jh. entwickelte,
und um die rückwirkende Fälschung der Geschichte nach der Zerschlagung eben dieses Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in den Napoleonischen Kriegen.
(Frankreich, das ganz Europa mit Krieg überzogen hatte und den Krieg "verlor", hat dabei eigentlich nichts verloren. Es mußte weder Gebiete abtreten noch Reparationen zahlen.
Napoleon bekam sogar noch mit Elba eine eigene insel mit einem all-inclusive-Paket geschenkt, nebst einer Armee von 1000 Mann, und behielt seinen Titel als "Kaiser der Franzosen" !)

Hauptakteure waren die kaiserlos gewordenen Regionalfürsten, insbesondere Preußen, und das spätere Zweite Deutsche Reich.

P.P.S.: Wenn Sie die von Ihnen empfohlene Recherche in den USA oder im heutigen Deutschland durchführen, hoffe ich nicht,
daß Sie z.B. aus der Existenz eines Freistaates Bayern mit eigener Verfassung, eigenen Gesetzen, eigenen Gerichten, einer eigenen Landespolizei,
und einem eigenen gewählten Parlament nebst Staatsregierung, die falschen Schlußfolgerungen ziehen.
Man darf nämlich nicht den Überblick verlieren !

Mir bleibt daher nichts anderes übrig, als Ihnen in folgendem Punkt zuzustimmen:

Ist Ignoranz und Forschungsabneigung etwa ein Zeichen für historische Wissenschaft?

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13 Nov. 2011 20:57 - 13 Nov. 2011 21:02 #5842 von
antwortete auf Aw: Kleinstaatlichkeit
Wieso sollen aus Napoleons Sturz und seiner offenbar "sanften" Behandlung irgendwelche Geschichtsfälschungen resultieren bzw. notwendig geworden sein?! Er hatte sich und seine Familie gezielt mit europäischen Fürstenhäusern verschwägert, die nun für ihn einsprachen. Mehrere Monarchien verdankten ihm ihren Aufstieg (Bayern, Württemberg, etc.), deren Zuspruch war er ebenfalls sicher.

Der neue Machtfaktor in Europa war Preußen, weil es zufällig mit Wellington am Sieg gegen Napoleaon teilnahm.

Wer sollte hier ein Interesse daran haben, etwas Vergangenes zu fälschen? Die Fronten waren klar, Habsburg und das Russische Reich waren mit "einem blauen Auge" davongekommen. Napoleon wurde nach wie vor von vielen Deutschen verehrt, Nietzsche feiert ihn noch 80 Jahre später als größten Europäer ... Hier musste nirgends gefälscht werden, da alles auf den Schlachtfeldern entschieden wurde, und beim Wiener Kongress wurden dann nach beinahe physikalischen Machtquanten die staatlichen Verhältnisse neu aufgeteilt.

Man vergleiche bloß einen Hof- und Staatskalender von 1790 und einen von 1810 um festzustellen, dass alles beim alten blieb, nur die Staatsoberhäupter zum Teil gewechselt haben.

Und was die Quellen betrifft, ist jede moderne Literatur immer eine Art von Interpretation, allein schon in der Auswahl und der Menge der einzelnen Belege und Urkunden.

Um die alten staatlichen Strukturen wirklich kennenzulernen, empfiehlt es sich irgendein Genealogisches Handbuch um 1900 zu vergleichen, wo hunderte verschiedene gräfliche, freiherrliche oder adelige Familien ihre Genealogien unabhängig voneinander selbst zur Veröffentlichung eingesandt haben, und wo man an allen älteren Stammtafeln und Genealogien die selben Phänomene feststellen kann, wie z.B. das Enden konkreter Datierungen ab einem bestimmten Jahrhundert, das plötzliche Wiederholen immer derselben Vornamen, das völlige Fehlen von zeitlichen Daten bei den Frauen etc. Hundertfach parallel immer dieselben Fakten, ohne dass die Einsender von den Forschungen der anderen wussten.

Ähnliche Forschungen lassen sich durch das Vergleichen von Kirchen- und Bürgerbüchern früherer Jahrhunderte mit davon völlig unabhängigen historisch-politischen Verträgen und Briefen anstellen: alles passt zusammen bis mindestens 1600.

Die geschichtliche Sekundärliteratur auszuwerten ist hingegen die bequemste (faulste?) und billigste Variante, keine Frage: man setzt sich aus den Theorien anderer Denker seine eigene Privattheorie zusammen. Was hat diese aber mit der Geschichte von Millionen Menschen zu tun, die sich kein Exkrement um private Theorien kümmern?

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13 Nov. 2011 21:31 #5845 von Basileus

Die geschichtliche Sekundärliteratur auszuwerten ist hingegen die bequemste (faulste?) und billigste Variante, keine Frage: man setzt sich aus den Theorien anderer Denker seine eigene Privattheorie zusammen. Was hat diese aber mit der Geschichte von Millionen Menschen zu tun, die sich kein Exkrement um private Theorien kümmern?

Sie müssen sich hier nicht dafür entschuldigen, Sekundärliteratur zu verwenden. Ihre Buchtipps im Thread "Bibliothek" sind durchaus interessant !

Aber auch die neuere sollte man hin und wieder lesen, sonst bekommt man nämlich gar nicht mit, was andere heutzutage so denken und schreiben. Es sei denn, man will es gar nicht mitbekommen, weil es nur das eigene Weltbild stört ...

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14 Nov. 2011 10:54 #5852 von Allrych
"Basileus" nimmt sich die Mühe, auf die arroganten, besserwisserischen Beiträge dieses Störenfrieds namens "Berlichinger" zu antworten.

Daraus zitiere ich einen Gedanken, der konzis das ausdrückt, woran die universitäre, die offizielle historische Wissenschaft krankt:

Ignoranz und Forschungsabneigung.

Ich nenne es Dogmatismus und Orthodoxie. - Die offizielle Historie benimmt sich wie eine allein seligmachende, rechtgläubige Kirche.

Aber mit Denkverboten steuern wir geradewegs in die Katastrophe.

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