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Was von Mozart ist wahr, was wurde dazugedichtet oder "verherrlicht"?
"Romantisch zugekleistert - Dieter Borchmeyer will Mozart vom Dreck befreien.
Von Martin Ebel
Der Zugang des Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer zu Mozart ist ein historischer. Seine These lautet:
Mozart ist im 19. Jahrhundert romantisch zugekleistert worden, befrachtet mit Mythen und Interpretationen,
hinter denen das Werk allmählich verschwunden ist wie eine gotische Portalfigur unter Taubendreck. Diesen
Dreck will Borchmeyer entfernen, damit uns der wahre Mozart in unverstellter Schönheit begegnen kann."
"An Mozart kommt niemand vorbei im kommenden Jahr, ebenso wenig wie am Fußball. Der 250. Jahrestag seiner Geburt
bringt die Plattenteller zum Rotieren - und ebenso die Plattenfirmen, Konzertveranstalter, Buchverlage, die
Wiener und Salzburger Hotellerie mit all ihren Event-Managern. Ein großer Teil der Aktivitäten wird sich auf
Mozarts Heimatland konzentrieren, in der Hoffnung, dass auch ein entsprechender Teil des Geldsegens dorthin
fließen möge - und als kleiner Trost dafür, dass Österreich nicht Fußballweltmeister werden kann, weil es gar
nicht für das Turnier qualifiziert ist. Aber Mozartweltmeister ist auch ganz schön.
Gegen Mozart hat niemand etwas. Der Goldknabe aus dem 18. Jahrhundert gilt den einen als Inbegriff des Schönen
und Reinen schlechthin, und wer es etwas rebellischer und punkiger mag, der hört halt statt Mozart - Amadeus.
Mozart begriffen, erklärt, ausgeschöpft zu haben darf indes niemand behaupten. Im Gegenteil: Dieser Komponist
bewahrt, wie kein anderer sonst, sein Geheimnis, seine Aura. Bei keinem anderen verfallen auch Kenner so leicht
in verzücktes Stammeln. Ein Begriff aus der Theologie, das "Wunder", fällt unweigerlich früher oder später,
wenn von Mozart die Rede ist.
Auch Goethe gebraucht diesen Begriff, als einer der ersten. Vierzehn Jahre alt war er, als er das siebenjährige
Wunderkind Wolfgang Amadeus in Frankfurt hörte. Das war 1763, und mehr als ein halbes Jahrhundert später erinnert
er sich im Gespräch mit Eckermann noch genau daran. Goethes Beziehung zu Mozart gilt ein Essay in Dieter
Borchmeyers Buch "Mozart oder die Entdeckung der Liebe", ein weiterer den Versuchen der Dichter, das Geheimnis,
das Mozart umgibt, mit der eigenen Phantasie auszustaffieren. Von Mörike bis Hanns-Josef Ortheil über zahlreiche
Kleinmeister reicht die Galerie der Mozart-Bedichter. Warum ist das so? Warum, fragt Borchmeyer,?
...ist gerade Mozart der am meisten literarisierte Komponist der Musikgeschichte geworden, warum nicht etwa
Beethoven oder Wagner, dessen abenteuerliches Leben dazu doch prädestiniert scheint? Der Grund dafür ist wohl
die Tatsache, dass Mozarts Leben und Werk vom Geheimnis des vorsentimentalischen Künstlertypus umwittert sind,
der sein Schöpfertum noch nicht zum Gegenstand ästhetischer Reflexion macht. Mozarts Vita und Kreativität bleiben
rätselhaft, fordern zu immer neuer literarischer Rätsellösung heraus. Der intellektuelle Künstler der Moderne
hingegen, der sich selbst zur Literatur und die Literatur zum Spiegel seiner selbst macht, will sich nicht in
die Welt der Fiktion eines anderen Künstlers fügen. Ihm fehlt die Aura des Undurchdringlichen, dessen eine
literarische Gestalt bedarf. Diese Aura aber zeichnet in besonderem Maße Mozart aus, der sich nicht in seinem
Werk und das Werk nicht in sich spiegelt, als Person durch einen undurchsichtigen Schleier von seiner Musik
getrennt bleibt wie kaum ein anderer großer Künstler; er bleibt deshalb bis über die Schwelle des neuen
Jahrhunderts ein literarisches Faszinosum.
Auch der Literatur- und Theaterwissenschaftler Borchmeyer, Ordinarius in Heidelberg und einer der bekanntesten
seiner Zunft, ist fasziniert. Sein Zugang zu Mozart in den sieben Essays seines neuen Buches ist ein historischer,
um nicht zu sagen historisierender. Seine These lautet: Mozart ist im 19. Jahrhundert romantisch zugekleistert
worden, befrachtet mit Mythen und Interpretationen, hinter denen das Werk allmählich verschwunden ist wie
eine gotische Portalfigur unter Taubendreck. Diesen Dreck will Borchmeyer entfernen, damit uns der wahre Mozart
in unverstellter Schönheit begegnen kann. Auf seine Weise tut der Autor damit nichts anderes als die Vertreter
der historischen Aufführungspraxis. Beanspruchen diese, die Werke so zu spielen, wie sie damals erklungen sind
- indem sie zu den originalen Tempi, der Artikulation, den Instrumenten, ihrer Stimmung und Aufstellung zurückkehren:
So will Borchmeyer uns begreiflich machen, auf welchen Erwartungshorizont die Opern Mozarts trafen, als sie
zum ersten Mal aufgeführt wurden. Welche Art von Opern Mozarts Zeitgenossen gewohnt waren und was das Neue,
Überwältigende, auch Befremdende der Mozartschen Werke war. Dabei geht es gar nicht zentral um die Musik;
Borchmeyer ist kein Musiker und kein Musikwissenschaftler und beansprucht auf diesen Gebieten auch keine
Kennerschaft. Deshalb kommt er auch ohne jegliches Notenbeispiel aus, was all die Leser freuen wird,
denen die einschlägige Kennerschaft ebenfalls abgeht. Das zentrale Interesse des Autors gilt vielmehr
einem Sachgebiet, auf dem jeder wenn schon nicht als Experte gelten, so doch eigene Erfahrungen beisteuern
kann: Es geht um die Liebe.
In Mozarts sieben, im Verlauf eines einzigen Jahrzehnts entstandenen großen Opern - "Idomeneo", "Die
Entführung aus dem Serail", "Die Hochzeit des Figaro", "Don Giovanni", "Cosi fan tutte", "Die Zauberflöte" und
"Titus" - bilden ein einzigartiges Panorama der sich überlagernden, kreuzenden, befehdenden und versöhnenden
Liebesdiskurse des späten 18. Jahrhunderts, wobei der empfindsame unverkennbar die anderen Diskurse
dominiert, die Empfindsamkeitsgemeinde den Goldgrund bildete, von dem sich die Liebenden galanter, taktischer
oder empfindsamer Provenienz, Zärtliche und Rasende, Treue und Treulose, Schwärmer und Zyniker, Verführer und
Verführte, Liebesmetaphysiker und Liebesnihilisten, Passionierte und Entsagende, Spiritualisten, Sensualisten
und Sexualisten leuchtend oder dunkel abheben.
Was versteht Borchmeyer nun unter dem "empfindsamen Diskurs"? Genau das, was wir heute unter Liebe schlechthin
verstehen: Dass wir intensive Gefühle für einen anderen Menschen entwickeln, die nach Nähe, nach geistigem,
seelischen und körperlichem Austausch drängen, und dass wir diesen anderen auswählen nicht nach objektiven,
sondern subjektiven Kriterien: Weil er so ist, wie er ist. Weil er das "gewisse Etwas" hat, etwas Unerklärliches.
In der romantischen Vorstellung, sozusagen der emphatischsten Form des empfindsamen Diskurses, finden zwei
füreinander bestimmte Menschen in Liebe zueinander, binden sich auf ewig und "erden" ihre Liebe durch die
Ehe. Diese uns so vertraute Vorstellung ist aber weder natürlich noch selbstverständlich. Bis zum 18.
Jahrhundert standen bei der Eheschließung im Vordergrund die Interessen der beiden Familien, die ihren Besitz
wahren oder vermehren, den Namen erhalten und weitergeben wollten. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Wenn
über Liebe geredet wurde, etwa in Gedichten oder auf der Bühne, handelte es sich um die "galante Liebe",
die eine eigene, hochelaborierte Formensprache entwickelt hatte. Im Lauf des 18. Jahrhundert trat nun eine neue
Gefühlskultur auf: die Empfindsamkeit, und ein neues Ziel: die Liebesheirat.
Liebe und Empfindsamkeit bilden einen Bund sowohl gegen die herkömmlichen Allianzregeln wie gegen den sie
umrankenden, synkopisch überspielenden galanten Code. Beide werden ausser Kraft gesetzt, indem Ehe und Liebe
zusammengeführt, Liebe als Voraussetzug der Ehe, Ehe als Institutionalisierung der Liebe bestimmt wird.
Im Gefühl der Liebe erkennt das Ich sich selbst und konstituiert sich als Subjekt.
Diese Liebe kennt keine Standesschranken mehr und auch keine anderen Grenzen. Sie setzt sich absolut. Darin
liegt aber auch eine Gefahr. Ein Gefühl, das sich nur noch auf sich selbst stützt, kann - so überraschend,
wie es gekommen ist - auch wieder verschwinden; der Liebende kann sich täuschen, im anderen wie in sich selbst.
Die Bedrohung der empfindsamen Liebe kommt also weniger von außen - wie das in traditionellen Liebesgeschichten
der Fall war mit ihren Piratenüberfällen, Entführungen und anderen Hindernissen -, sondern von innen. Genau
davon handeln Mozarts sieben große Opern, sagt Dieter Borchmeyer: von den Irrungen und Wirrungen, denen
die handelnden Personen ausgesetzt sind, weil sie sich in der neuen Welt der Empfindsamkeit zu bewegen versuchen.
Weil sie auf abweichende Verhaltensweisen stoßen oder die neue Gefühlskultur ihre eigenen Widersprüche
produziert - und, das ist bei Mozart immer so, diese Widersprüche auch wieder versöhnt.
Am Beispiel der Eröffnungsarie des Belmonte in der "Entführung aus dem Serail" zeigt Dieter Borchmeyer
sehr schön, wie sich der Held seiner Liebe versichert, wie er umgekehrt als Liebender zum Helden wird.
Die Arie folgt nicht mehr dem klassischen ABA-Schema der Opera seria, sondern entwickelt sich, als folge
sie den im Augenblick empfundenen und geäußerten Gefühlen. Belmonte ist kein Rollentypus mehr, sondern ein
Individuum, das seine Liebe als einzigartig wahrnimmt und dem Mozart eine entsprechend einzigartige Musik
auf den Leib schreibt.
Mozarts Liebesarie unterscheidet sich von ihrem deskriptiven Text wie Goethes Sesenheimer Erlebnisdichtung
von der "ut pictura poesis"-Lyrik der Aufklärung. Das gilt kaum weniger von den Arien Konstanzes,
zumal von der "Martern"-Arie, deren - 60 Takte umfassendes - instrumentales Vorspiel eine beispiellose
Herausforderung an die Bühne darstellt, da hier ein rein musikalisches Seelengemälde entworfen wird,
bevor die Sprache ihr Werk beginnt; Flöte, Oboe, Violine und Violoncello entfalten sich schon als Partner
der Singstimme, bevor diese selber ihnen gegenüber zu Ton und Wort kommt.
Im Finale des zweiten Akts derselben Oper zeigt Mozart dann, wie labil eine allein auf Empfindsamkeit gründende
Verbindung ist. Belmonte und sein Diener Pedrillo zweifeln plötzlich an der Treue ihrer Geliebten; diese
reagieren mit Fassungslosigkeit und Zorn, der Bruch scheint unmittelbar bevorzustehen. Mozart macht diese
Gefährdung, die sein Librettist nur angedeutet hat, zum Zentrum des Vokalquartetts.
Mozarts diskontinuierliche Satztechnik - die antagonistische Gefühlsbewegungen und plötzliche Gefühlswandlungen,
Kontraste und Brüche mit einer bis dahin unbekannten musikalischen Evidenz gestaltet - wird mit ihrem wiederholten
Wechsel von Tonart, Takt und Tempo im Quartett zum Seismographen der emotionalen Gefährdungen der Empfindsamkeit.
Der Allegro-Jubel des Beginns mit Pauken und Trompeten verschattet sich bei dem aufkeimenden Zweifel Belmontes an
Konstanzes Treue zu einem Moll-Andante, die Musik gerät ins Stocken, bis hin zum Stillstand, zur Generalpause,
die Konstanzes Fassungslosigkeit signalisiert. Wenn die Musik schliesslich zur Ausgangstonart D-Dur zurückfindet
und mit ihr zum Jubel des Beginns, ja sich zum Hymnus "Es lebe die Liebe" steigert - dessen ekstatischer Jubel
alles hinter sich lässt, was bis dahin in der Operngeschichte der Liebe zu Ton und Ort gelangte -, dann ist der
vorhergehende Zweifel doch nicht vergessen.
Immerhin sind die Gefühle dann doch stark genug, die Zweifel zu überwinden und eine "Empfindungsgemeinschaft"
zu bilden, die sogar den Bassa Selim ansteckt und dazu bringt, auf die Rache am Sohn seines ärgsten Feindes zu
verzichten und Konstanze ziehen zu lassen. Nur Osmin, der Haremswächter, ist von dieser Veredelung durch
Empfindsamkeit ausgeschlossen; er beharrt auf Rache und bleibt der Fundamentalist dieser Oper, gegenüber dem das
Quartett der Liebenden seine moralische Überlegenheit demonstrieren kann.
Durst nach Rache, ein klassischer Affekt der Opera seria (also jener Opernform, die Mozart mit seinen großen
Werken überwindet), dient auch andernorts als Mittel, die neue Empfindungskultur scharf hervortreten zu lassen.
Einen ganzen Aufsatz widmet Dieter Borchmeyer den "rasenden Weibern", einem seinerzeit klassischen Rollentypus.
Die rasenden Weiber sind anachronistische Figuren, geprägt von einer obsoleten Affektwelt, wie sie auf dem
Theater des 18. Jahrhunderts ganz bewusst nur noch als Kontrastfolie zur zeitgemäßen empfindsamen Humanität
eingesetzt wird. Sie sind Projektionen des empfindsamen Liebescodes, verkörpern das aus ihm Ausgeschlossene -
die durch eben diesen Ausschluss dämonisierte, ins Orgiastische gesteigerte erotische Leidenschaft, die aus dem
vernünftig-zärtlich domestizierten modernen Leben herausfällt, hinabfällt in eine mythisch-archaische Tiefe,
wo noch ungebändigte Ungeheuer in der äußeren Natur wie im menschlichen Inneren hausen.
In der "Zauberflöte" wird Pamina dieser archaischen Welt entzogen und in die Welt des Priesterkönigs Sarastros
überführt, in jene "heilgen Hallen", in denen man die Rache nicht kennt und in der sie mit Tamino eine Gemeinschaft
bildet, die mehr ist als eine bloße Gefühlsgemeinschaft zweier Liebender; sie ist Teil eines größeren Ganzen.
In Sarastros Reich gelten keine Standesunterschiede (das war etwas, was Mozart bei den Freimaurern so gefiel),
aber auch keine Rangunterschiede zwischen Frau und Mann. Die frauenfeindlichen Töne, bis dahin in der
"Zauberflöte" unüberhörbar, verschwinden jetzt, und Mann und Weib reichen tatsächlich an die Gottheit heran -
hier vollendet sich Mozarts Utopie.
In Paminas Wandlung von der Tochter der chthonischen Königin zum Abbild der Göttin des Sonnenreichs erfährt
das empfindsame Frauenbild - im Kontrast zu einer furienhaften, von Hass und Rache beherrschten
matriarchalischen Weiblichkeit - seine äusserste Steigerung. Pamina ist es auch, die Tamino anleitet, beim
Weg durch die mit Vernichtung drohenden Elemente - Feuer und Wasser - die Zauberflöte zu spielen. Diese ist die
humanisierende Gegenkraft zur Macht des Elementaren, ob es sich um die Raserei der unbelebten Natur, des wilden
Tierreichs oder der Affektwelt des Menschen handelt. Wie sie "der Menschen Leidenschaft verwandeln", seine
aggressiven Affekte zu philanthropischen Empfindungen harmonisieren kann, so verwandelt sich unter ihren Tonen
alles Bedrohliche ins Wohltätige. Die Musik selbst offenbart sich in Mozarts "Zauberflöte" dergestalt als
tönende Humanität.
In der "Hochzeit des Figaro" trifft der galante Liebesdiskurs des "ancien régime" auf die neue Empfindsamkeit
- in ein und derselben Person. Der Graf Almaviva ist seiner Gattin in echter, zärtlicher Liebe zugetan; zugleich
glaubt er sich aber berechtigt, aufgrund seiner ständischen Privilegien, den Frauen seines Herrschaftsbereichs
nachzustellen. Der sich daraus ergebende Konflikt treibt die Oper an; er wird gelöst durch die Verwandlung des
Grafen - musikalisch ausgedrückt durch eine lange Pause, auf die das berührende "contessa perdono", die Bitte
um Verzeihung, folgt. Die Wahrnehmung der edlen Empfindungen seiner Umgebung führen auch zu seiner moralischen
Läuterung. Die wahre Empfindung stiftet auch hier eine Gefühlsgemeinschaft, deren Sogwirkung stärker ist als
alle destruktiven Kräfte.
Am Beispiel von "Cosi fan tutte" führt Dieter Borchmeyer nicht nur vor, was der historisierende Ansatz zur
Erhellung eines Werks leistet, sondern auch, wie der dominierende Diskurs der Gefühle die Aufnahme und Beliebtheit
eines Werkes prägt. "Cosi fan tutte", diese Geschichte von zwei Offizieren, die die Treue ihrer Verlobten
dadurch prüfen wollen, das jeder die des anderen zu verführen versucht - "Cosi fan tutte" löste bei den
Zeitgenossen Befremden aus, im 19. Jahrhundert fiel das Werk vollends in Ungnade. Ganz einfach, erklärt Borchmeyer:
Im 19. Jahrhundert war der Diskurs der Empfindsamkeit zur herrschenden Ideologie geworden, zum romantischen Dogma
sozusagen, und die früher übliche Weise des Fühlens unverständlich geworden. Um so mehr Werke, die nach solchen Regeln
funktionierten, wie eben "Cosi fan tutte":
Die Partnerwahl der Oberschicht richtete sich ganz selbstverständlich auf solche Personen des anderen
Geschlechts, die einem vorgeprägten Erscheinungsbild, Tugendkatalog und Verhaltenscode entsprachen, die man
also gewissermaßen schon kannte, bevor man sie gesehen hatte. So hat auch das Quartett in "Cosi fan tutte" vor
Beginn der Opernhandlung zueinander gefunden, und der Gedanke, dass die eingegangene Beziehung durch irgend
etwas gestört werden könnte, fällt aufgrund der Kongruenz von Suchmuster und gefundenem Partner völlig aus dem
Horizont der Protagonisten heraus.
Durch die Versuchsanordnung des "Philosophen" Don Alfonso geraten die beiden Frauen in eine exotische Situation,
in der sie sich so neuen, ihnen selbst unbegreiflichen Gefühlen ausgesetzt sehen. Sie werden sozusagen aus der
alten Welt der vernünftig geschlossenen Allianzen in die neue Welt der Empfindsamkeit katapultiert. Experiment
geglückt, Patient desillusioniert: Das Quartett kehrt, nachdem es die Unberechenbarkeit der Gefühle am eigenen
Leib (oder dem des Partners) erlebt hat, lieber wieder zum "ancien régime" der vernunftgesteuerten Beziehungen
zurück. Das konnte einem Publikum, dem der empfindsame Diskurs längst in Fleisch und Blut übergegangen war, nicht
gefallen.
Dasselbe Publikum, meint Borchmeyer, musste deshalb den "Don Giovanni" missverstehen. Auch hier rekonstruiert der
Autor deshalb den Erwartungshorizont der Entstehungszeit. Das führt zu einer Entromantisierung und Entdämonisierung
des Titelhelden und einer Aufwertung seines Gegenspielers Don Ottavio. Dieser erscheint in Mozarts Optik als
reinster Vertreter der Empfindsamkeit und Vernunft, der dem feudalen Wüstling Don Giovanni mit dem Gerichtsdiener
entgegentritt, wie es das Gewaltmonopol des modernen Staates verlangt. Don Ottavio, nach Borchmeyers Worten
ein "Mann der Zukunft", bildet mit dem Komtur und Donna Anna ein ideales Dreieck der Empfindsamkeit. Es ist das
19. Jahrhundert, speziell in der Nachfolge E.T.A. Hoffmanns, das in das Stück Dinge hineinspekuliert hat, die
dort nicht zu finden sind: eine vollzogene Vergewaltigung Donna Annas durch Don Giovanni und eine daraus entstandene
emotionalen Bindung jener an diesen. Donna Annas Verhältnis zu Don Giovanni muss metaphysisch erotisieren, wer
den Verhaltenscode und die Gefühlswelt des Vor-empfindsamen Zeitalters nicht mehr versteht - was, so Borchmeyer,
auch für die meisten heutigen Opernregisseure gilt.
So plausibel aber Borchmeyers Analyse ist: Sie hat eine Schwäche. Don Giovanni verliert durch die Entdämonisierung
an dramatischer Kraft, und die Aufwertung Don Ottavios kann dies nicht ausgleichen.
Der Sex-Appeal der Hölle ist halt meist stärker als der des Himmels?
?weiss Borchmeyer selbst, und ein dämonischer Don Giovanni, wie ihn die Rezeptionsgeschichte geformt hat, ist eine
attraktivere Bühnengestalt als der scheiternde Vertreter des abtretenden Feudalzeitalters, den Borchmeyer aus dieser
Oper historisch korrekt herausliest. Es ergeht einem mit Borchmeyers Methode wie mit manchen Dogmatikern der
authentischen Aufführungspraxis: Sie mögen ja Recht haben, aber Mozarts Klaviersonaten klingen auf einem modernen
Flügel eben doch reicher, voller, vielstimmiger und prächtiger als auf einem schwachbrüstigen historischen Instrument.
So ist "Die Entdeckung der Liebe" eher stark anregend als vollkommen überzeugend. Die meisten Essays des Bandes
wurden übrigens bereits andernorts veröffentlicht, und wenn das Buch auch keine bloße Buchbinder-Synthese aus
Anlass des Mozart-Jahres ist - ein rundes ganzes ist es eben auch nicht geworden. Hervorhebenswert ist noch
das Nachwort über Robert Walsers Mozart-Bild - vor allem wegen der vielen schönen Robert-Walser-Zitate. Rührend
Walsers Mozart-Gedichte, verblüffend ein tragisches "rewriting" der "Zauberflöte", die mit einer verzweifelnden
Pamina endet, und schlicht unübertrefflich folgende Sätze aus dem Prosastück "Musik":
Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das
Beste, was ich über Musik zu sagen weiß."
Quelle: www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/460776/
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