Erfundene Antike. Teil 1


Eugen Gabowitsch
 

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https://de.geschichte-chronologie.de/pdf/SY7807-Gabowitsch-Antike-Teil1.pdf

03 Feb. 2007

Auch bei den Gelehrtesten und Vornehmsten als dem Luciano und Apulejo, wie auch bei dem Herodoto, dem Grossvater der Historien-Schreiber, bei dem Theopompo, wie Cicero sagt, sind unzählige Fabeln zu finden und ihre Bücher aller Lügen voll.

-------------------- Agrippa v. Nettesheim.
Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften ...




Teil 1.


Inhalt:

..........Einleitung
..........Neue Antike aus Stein.
..........Wie wurden Beweise für die Existenz der Antike gesammelt: Beispiel der medizinischen Werkzeuge
..........15. Jahrhundert: Lorenzo Valla und die getürkte „Konstantinische Schenkung“
..........16. Jahrhundert: Der deutsche Erfinder der Geschichtskritik zur Antike
..........17. Jahrhundert: Ein spanischer Erfinder der Antike
..........18. Jahrhundert: Der skeptische Jesuit erkennt keine Antike






Die meisten historischen Begriffe entstehen nicht während der Epoche, die sie bezeichnen, sondern viel später im Prozess der Festigung der historischen Dogmen. Die Tatsache, dass die meisten Historiker nicht einmal genau wissen, wann diese Begriffe und von wem eingeführt wurden, führt zur fast totalen Unwissenheit darüber bei der breiten Leserschaft der historischen Werke, also bei der überwiegenden Masse der Bevölkerung. Dies allein macht bereits das ganze konventionelle Bild der Vergangenheit, was seine Wahrhaftigkeit betrifft, sehr verdächtig.

So ist das Wort Renaissance in englischer Sprache erst seit 1845 bekannt! Und hat bestimmt nicht blitzschnell nach der Erfindung die ganze Welt der Geschichtsschreibung erobert. Soll das bedeuten, dass die meisten Humanisten noch keine Gedanken über die Wiederbelebung der altgriechischen und altrömischen Kultur machten oder - was noch wahrscheinlicher ist - diese Kultur als eine noch vorhandene oder noch vor kurzer Zeit existierende ansahen? Dass sie sich einfach für alte Schriftsteller und Bildhauer interessierten? Wobei das Wort „alt“ alles Mögliche bedeuten kann: man wird auch nach ca. 50 Jahren sehr alt.

Die Antike oder das griechisch-römische Altertum wurde nach der Eroberung im 15. Jh. von Konstantinopel und den romanischen Herzogtümern in Griechenland durch die Osmanen nach und nach in Italien erfunden. Dort wurden auch die ersten phantastischen chronologischen Weichen für die Antike ausgedacht. Im nächsten Jahrhundert begann man diese chronologischen Phantasien zu ordnen bis es Kalvisius und Scaliger Ende des Jahrhunderts gelang, erste umfangreiche chronologische Tabellen zusammenzustellen. Die deutschen Humanisten und auch Historiker des 17. und 18. Jh. systematisierten und vertieften die Beschreibung der erfundenen Epoche.


Neue Antike aus Stein.

So schufen diese Historiker die Grundlage für die nächste Generation der Antikeliebhaber, die die in den vergangenen 2-3 Jahrhunderten erfundene Geschichte im 19. Jh. in Griechenland zu realisieren begannen. Zuerst haben sie alles entfernt, was ihren Antike besetzten Köpfen nicht entsprach, um eine neue Antike im Stein entstehen zu lassen. Dabei wurden die spätmittelalterlichen Prachtbauten und deren Ruinen zu dem antiken Erbe erkoren und durch Restaurieren und Umbauen in Einklang mit der Gelehrtenvorstellung von der griechischen Antike gebracht. So wurde z. B. aus der Kirche der Heiligen Jungfrau Maria Mutter Gottes (Parthenos) ein heidnischer Tempel Parthenon.

Danach kamen die Archäologen, die alles, was sie finden konnten, zum antiken Kulturgut erklärt haben, obwohl das die Werke der lokalen und italienischen Meister waren, die im 14.-15. Jh. für die örtlichen Herzoge (Heer zog = ehemalige Heeresführer) gearbeitet haben. Insbesondere im Herzogtum Athen, das zuletzt vor der osmanischen Eroberung von Florenz abhängig war, wurden viele Skulpturen gefunden, die dem italienischen Geschmack entsprachen.

Was wissen wir von dem Athener Mittelalter? Die Hauptquelle ist das Buch „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (ca. 600 S.) von Ferdinand Gregorovius (1821-1891), das in seinem Sammelband „Athen und Athenais“ zu finden ist und ganz am Ende seines Lebens abgeschlossen wurde. Zur Kirche der Jungfrau Maria sagt er „die christliche Religion erhielt das große Heiligtum der antiken Stadtgöttin auf der Akropolis fast unversehrt (weil gerade neu gebaut? – E.G.) [...] In der ganzen Geschichte der Transformation antiker Kultusbegriffe und Heiligtümer in christliche gibt es kein Beispiel einer so leichten und vollkommenen Vertauschung als die der Pallas Athene mit der Jungfrau Maria.“ ( S. 51). Dabei traten in Athen „die christlichen Charaktere [...] nicht so bedeutend hervor wie in Rom“ ( S. 70). Klar, weil die Athener im Spätmittelalter genau so bauten, wie die ausgedachten „antiken“ Baumeister und Bildhauer.

Für uns ist in erster Linie die konventionelle Geschichte nach etwa 1200 wichtig (was nicht bedeutet, dass ich den Jahresangaben und weiteren Schilderungen der Historiker traue). Historiker behaupten dazu, dass 1204 die französischen Kreuzfahrer Athen eroberten. Danach wurde Athen zusammen mit Böotien und Megaris an den Ritter Othon de la Roche vergeben. 1260 wurde Athen fränkisches Herzogtum. Die Katalanen eroberten Athen 1311, und die Florentiner1387. Die florentinischen Herzöge bauten ihren Palast in die Propyläen der Burg ein und begannen eine neue Bautätigkeit auf der Akropolis. Drei Jahre nach dem Fall Konstantinopels eroberten 1456 Athen die Osmanen unter Mehmet II.

Also beherrschten die romanischen Adligen Athen (und auch weitere Teile Griechenlands) zweieinhalb Jahrhunderte. Zeit genug, um einige Prachtbauten zu errichten und viele Skulpturen und weitere Kunstwerke zu schaffen. Komischerweise finden die Archäologen von dieser Periode fast nichts, weil alle verborgenen Schätze des Athener Bodens der Antike zugeschrieben werden.

Nach vielen grausamen Kämpfen zwischen Griechen und Türken zog 1833 König Otto von Bayern als Herrscher in Athen ein. 1834 erhob er Athen zur Hauptstadt des Königreichs Griechenland. Otto war nur an dem antiken Athen interessiert und ließ viele mittelalterliche und spätere Bauten abreißen. Aus einer lebendigen Stadt mit mittelalterlichem Charakter, die auf der Akropolis existierte, wurde nach Rückbau von Moscheen, Markthallen, Geschäften und Wohnhäusern ein „antikes“ Ruinenfeld.
1834 wurde ein Entwurf Klenzes zur Stadtplanung als Grundlage für alle Bauvorhaben akzeptiert. Nach diesem Plan mussten viele repräsentative Bauten im klassischen Stil errichtet werden. Für die neuen Wohnviertel wurden Typenhäuser entworfen, die der neuen Stadt ein „klassisches“ Aussehen garantieren sollten. Alles musste so die Augen erfreuen, wie nach Vorstellungen der Historiker eine altgriechische Stadt ausgesehen haben soll. Einige Prachtbauten wie die Akademie der Wissenschaften und die Nationale Bibliothek wurden im 19. Jh. im klassischen Stil errichtet, aber der drastische Zuwachs der Bevölkerung machte die Bebauungspläne zunichte.

Heute läuft die Errichtung des „antiken“ Erbes in ganz Griechenland intensiv weiter. Als ich im Sommer 2003 Griechenland besuchte, sah ich an vielen Stellen aktives Bauen inmitten der Ruinen. Die neu errichteten „antiken“ Bauwerke werden nur in Ausnahmefällen als neue Bauten dem Besucher präsentiert. Einige Versuche ungelungener Restaurierung konnte man dadurch sehen, dass durch schlechte Qualität des verwendeten Betons Stücke davon abfielen und die Stahlarmaturen sichtbar machten (oder bauten die „antiken“ Griechen aus Stahlbeton?). An vielen Stellen sieht man nach Farbe der Steine, was neu gebaut wurde. Nach einigen Jahren werden diese Merkmale als Folge der Witterung für immer verschwinden.


Wie wurden Beweise für die Existenz der Antike gesammelt: Beispiel der medizinischen Werkzeuge

Im Buch von Bernt Karger-Decker „Die Geschichte der Medizin von der Antike bis zur Gegenwart“, Düsseldorf: Pathmos und Albatros, 2001 (Eigentlich ist das eine neue Auflage des Buchs „Von Arzney bis Zipperlein. Bilder zur Kulturgeschichte der Medizin“ aus dem Jahr 1992, Berlin: edition q) fand ich interessante Einzelheiten darüber, wie man Beweise und illustratives Material zu vergangenen Epochen sucht und findet. Normalerweise muss man in den Illustrationen gezeigte medizinische Instrumenten einfach bewundern, aber niemand sagt dem Leser, wie der Autor zu den entsprechenden Bildern kam. Man kann nur vermuten, dass die Werkzeuge aus tief liegenden Erdschichten ausgegraben und in die „antike“ Epoche datiert wurden. Diesmal aber im Kapitel „Chirurgische Instrumente des Altertums“ (S. 24) erzählt uns Autor ganz genau, wie man sie gefunden hat:
„Im Frühjahr 1910 unternahm der Jenaer Medizinhistoriker Professor Theodor Meyer-Steineg (1873-1936) eine Studienreise nach Griechenland und Kleinasien, um, wie in seinem Expeditionsbericht zu lesen, „nach allen solchen Dingen zu suchen, die irgendwelche Beziehungen zur antiken Medizin böten". Die ertragreichste Ausbeute fiel ihm in der karischen Küstenstadt Ephesos und auf der dorischen Insel Kos zu.
Dankbare eingeborene Patienten, deren Augenkrankheiten der Forscher als einstiger Facharzt für Ophthalmologie erfolgreich behandeln konnte, halfen ihm beim Aufspüren derartiger Gegenstände oder steuerten Fundstücke aus eigenem Besitz bei.

Auf diese Weise fielen Meyer-Steineg neben anderen heilkundlichen Überresten zahlreiche chirurgische Werkzeuge aus hellenistisch-römischer Epoche zu. Die meisten von ihnen waren aus Kupfer mit etwa 15prozentigem Zinnanteil gefertigt; das zweithäufigste, besonders zur Herstellung von Schneidinstrumenten verwandte Material bildeten Eisen bzw. Stahl. In den hippokratischen Schriften findet sich gelegentlich für den Begriff des Operationsmessers das Wort „sidéros" (= „Eisen" oder „Stahl") als Bild der gefühllosen Härte. Silber indessen wurde nur ausnahmsweise, etwa zur Anfertigung von Starnadeln sowie zu anderen diffizilen Zwecken dienenden Geräten, verarbeitet.

Die Instrumente selbst wurden von erfahrenen Spezialhandwerkern, sofern die Bestimmung es zuließ, aus einem einzigen Metallstück geschmiedet, während vorgesehene Griffe, oftmals reich verziert, in Gußtechnik gefertigt wurden. Aus mehreren Teilen bestehende Instrumente, wie Zangen oder Spekula zum Betrachten dem bloßen Auge verborgener Organe, wurden in zusammensetzbaren Einzelteilen produziert.

Das Gros des hippokratischen ärztlichen Instrumentariums ließ das damalige Herstellungsprinzip möglichster Einfachheit mit dennoch vielfacher Anwendungsbreite erkennen. Zu den hauptsächlichen chirurgischen Geräten der griechisch-römischen Antike zählten verschiedenartige Sonden, Löffel, Spatel, gerade Messer mit einer und mit doppelter Schneide, Messer mit gebogener Klinge, Zangen, Pinzetten, haken- und röhrenförmige Instrumente, Nadeln, Knochensäge, Trepan, Knochenmeißel und Salbenreiber. Alle im Instrumentenkasten der Heimpraxis aufbewahrt. Für die Außenpraxis standen dem Arzt etuiartige Taschenbestecke zur Verfügung.“

Nach dieser Reise veröffentlichte Theodor Meyer-Steineg dann das Buch „Chirurgische Instrumente des Altertums. Ein Beitrag zur antiken Akiurgie“, Jena, 1912. Und nun präsentiert Karger-Decker Bilder aus diesem Buch ohne auch einen Hauch des Zweifels erkennen zu lassen. Ihn stört nicht einmal die Tatsache, dass die antiken Griechen schon chirurgische Instrumente aus Stahl produziert haben sollten. Er kommt nicht auf die Idee, dass die Patienten des Arztes Meyer-Steineg vielleicht doch keine Instrumente benutzten, die länger als tausend Jahre alt waren, sondern eher solche aus dem 19. Jh. oder spätestens aus dem 18. Jh. Und nur darum wussten sie Bescheid über die Handwerker, die solche Instrumente fertigten, weil dies höchst wahrscheinlich noch am Anfang des 20. Jh. eine lokale Sitte war.

Übrigens, über die antike Chirurgie bringt der Autor nur einen Beispiel aus Homer und dabei wurde ein Pfeil aus der Brust ausgeschnitten. Außer diesem Beispiel ist in dem Antike-Kapitel nur noch ein Hinweis, dass die antike Chirurgie durch Methoden zur Heilung von Knochenbrüchen und weiteren Sportverletzungen bereichert wurde. Also kennt das Buch keine gynäkologischen oder urologischen Operationen bei alten Griechen (obwohl die Bilder auf der S. 27 des Buchs auch entsprechende Instrumente zeigen sollen). Auch im Artikel „Chirurgie“ des „Lexikons der Antike“ (Leipzig, 1979) werden keine gynäkologischen Operationen erwähnt. Vielleicht sind die urologischen Instrumente von Meyer-Steineg die einzigen existierenden Beweise für urologische Operationen, die im Lexikon erwähnt werden.

Im umfangreichen russischen Lehrbuch zur Geschichte der Medizin (T.S. Sorokina, Geschichte der Medizin, Moskau, 2005, 560 S.) steht jedenfalls, dass die altgriechische Chirurgie nur Wundenbehandlung und Traumatologie kannte.


15. Jahrhundert: Lorenzo Valla und die getürkte „Konstantinische Schenkung“

Eine berühmte Fälschung der römischen Spätantike entlarvte der italienische Humanist, Philologe, Philosoph und Logiker Lorenzo Valla (angeblich 1405 oder 1407 - 1457). Er war ein Kenner der Schriften von Aristoteles, Cicero, Quintilian, Boëthius, Lullus und Thomas von Aquin. 1431 wurde er Professor für Rhetorik in Pavia. Von 1435 - 1448 arbeitete er als Sekretär des Königs Alfons V. von Neapel. Danach war er Sekretär am päpstlichen Hof und ab 1450 auch noch Professor für Rhetorik in Rom.
Ein entschiedener Gegner der Scholastik, gilt er als Begründer der philologisch-historischen Kritik, war aber kein Geschichtskritiker im Allgemeinen. Auch wurde er traditionell nicht als Historiker betrachtet, obwohl alle seine philologischen Werke einen stark ausgeprägten historischen Charakter hatten. Er war einer der ersten Bibel-Kritiker. Er bewies, dass bei Livius nicht alles glaubwürdig ist, wie die allgemeine Meinung seiner Zeit war. Er zeigte, dass ein „Brief Christi“, den Eusebius zitiert, eine Fälschung ist.

Seine berühmteste Entlarvung einer Fälschung ist angeblich 1440 geschrieben worden: „De falso credita et ementito Constantini donatione declamatio“ (etwa: Falsches Zutrauen in die Deklaration der Konstantinischen Schenkung und ihre Verlogenheit“). Diese „Schenkung“ soll im 4. Jh. erfolgt sein: als Papst Silvester den Kaiser Konstantin von Lepra heilte, soll der dankbare Kaiser ihm alle Ländereien des Vatikan geschenkt und zusätzlich – als kleine Zugabe sozusagen - noch die Herrschaft über den ganzen Westen des Römischen Reichs übertragen haben.

Nun wissen aber die Historiker, die angeblich den Kaiser Konstantin gut kannten, von keiner Lepraerkrankung und auch von keiner Schenkung an den Papst.
Auch hatten die Päpste keine entsprechende Urkunde. Und die philologische Analyse von zwei einzigen Dokumenten, in welchen diese Schenkung erwähnt wird, habe gezeigt, dass sie viel später als im 4. Jh. geschrieben wurden. Außerdem entdeckte Valla in diesen beiden Texten zahlreiche Anachronismen. Im Text, wo die „Schenkung“ wörtlich zitiert wurde, stehen am Ende schreckliche Bedrohungen an diejenigen, die der Schenkung nicht Folge leisten werden. Darüber schreibt Valla, das so etwas kein Kaiser schreiben kann, vielleicht aber ein dummer dicker Mönch.

Diese Schrift von Valla beinhaltete eine sehr scharfe Kritik der Politik der Päpste. Darum fand 1444 ein gegen ihn gerichtetes Verfahren der Inquisition statt. Obwohl seine Schrift zur „Schenkung“ im Prozess kein einziges Mal erwähnt wurde, hat man ihn zum Tode verurteilt. Jedem in seiner Zeit war klar, warum. Der König von Neapel hat den Gerichtsbeschluss verworfen, aber danach war Valla viel vorsichtiger in seinen politischen Äußerungen, auch weil er nach einer Empfehlung des Kardinals Nikolaus von Kues in den päpstlichen Dienst eintrat.

Für uns (die Geschichtskritiker) ist wichtig zu betonen: schon in der Zeit, in der die griechische Antike noch nicht erfunden war, wurden – sogar nach Vorstellungen der Historiker - Fälschungen verbreitet.


16. Jahrhundert: Der deutsche Erfinder der Geschichtskritik zur Antike

Wenn die Lebensjahre des deutschen Humanisten Agrippa von Nettesheim (angeblich 1486 - 1535) stimmen (und man kann nie bei einem Humanisten sicher sein, dass unsere Kenntnisse zu seiner Person oder seinem Tun wirklich richtig sind), dann war er vermutlich der erste, der eine massive Kritik über die Geschichtsschreibung und die Geschichtsschreiber ausübte.

Behauptet wird, dass er als Heinrich Cornelis in Köln geboren wurde. 1499 immatrikulierte er sich an der Artistenfakultät in der Heimatstadt. Danach studierte er Rechtswissenschaft und Medizin in Paris, aber auch andere Wissenschaften (Optik, Mechanik, Astrologie) und Sprachen. Lebenslang versuchte er die Brüche zwischen den Naturwissenschaften zu überwinden. In seinen Studienjahren unternahm er viele Reisen und lernte dabei zahlreiche Gelehrte kennen. Einer seiner Lehrer war Johannes Trithemius, der auch Paracelsus unterrichtete. In seiner Jugend verband er einige Jahre in Italien, wo er nicht nur seinen Kenntnisstand an der Universität Pavia verbesserte, sondern auch am Krieg teilnahm und sogar zum Ritter geschlagen wurde. Später lehrte er an verschiedenen Universitäten in mehreren Ländern, zuerst an der Universität Dôle in Burgund.

Als Arzt und Berater war er sehr berühmt, obwohl er kein Doktor der Medizin war. Herrscher wie Maximilian I., Karl V., Franz I. von Frankreich, Heinrich VIII. von England, sowie Margarete von Österreich nahmen seine Kenntnisse in Anspruch, erfüllten aber nur selten seine in die Nähe zu den Mächtigsten dieser Welt gelegten Hoffnungen. Oft verlor er die Gunst seiner Gönner durch Teilnahme an Intrigen, die nicht zu seinen hohen Künsten gehörten. Ob er in Grenoble starb, wie einige behaupten, oder auf der Flucht aus dieser Stadt, ist nicht genau bekannt (Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er doch auf der Flucht vor kirchlichen Eiferern, die ihn als Ketzer verfolgten).

Bekannt ist er hauptsächlich als Historiker der Magie, dem - nicht unbedingt wahrheitsgemäß - in erster Linie gerade der Ruf eines Magiers durch die Jahrhunderte folgte. Und er war bestimmt auch ein Kenner der Alchemie und der magischen Vorstellungen seiner Zeit, aber auch ein praktizierender Arzt, Politiker und Universalgelehrter. Bekannt ist seine entschiedene Gegnerschaft der Hexenverfolgung, die ihm viele Unannehmlichkeiten brachte. Als er öffentlich die kirchliche Intoleranz anprangerte und vehement die Hexenprozesse verurteilte, geriet er in Konflikt mit der Kirche und mit lokalen Behörden.

Sein Lebenslauf ist ziemlich abenteuerlich und voller Umsiedlungen, Reisen, Verfolgungen und Entbehrungen. Häufig war er auf der Flucht, auch wegen seiner Schulden, saß sogar deswegen im Gefängnis. Christopher Marlowe stellte in seinem Drama "The Tragical History of Life and Death of Doctor Faustus" seine Hauptfigur als einen skrupellosen Schüler von Agrippa dar. Es wird behauptet, dass Goethe für seinen "Faust" Agrippa als einen Prototyp benutzte. Obwohl sein Faust dem Namen nach an die Figur eines gewissen Doktor Johann Faustus angelehnt ist, doch heißt Goethes Faust nicht "Johann" sondern "Heinrich" wie Agrippa-Cornelius.

Das Philosophenlexikon aus dem Internet schreibt über ihn als Philosophen und Schriftsteller ganz kurz Folgendes:
Der deutsche Wundarzt, Jurist, Theologe, Philosoph und Magier Agrippa von Nettesheim (eigentlich Heinrich Cornelius) verband den Neuplatonismus, die Kabbelistik, die lullische Kunst, die Magie und den Okkultismus zu seiner geheimen Philosophie (De occulta philosophia, 1510, gedruckt 1533). [...]

In seinem Werk Declamatio de incertitudine et vanitate scientiarum et artium griff er die falsche Magie, die Astrologie, die Wissenschaften sowie Missstände in Staat und Kirche an.

Gerade das letzte Werk (übersetzt „Zur Unsicherheit und Eitelkeit der Wissenschaften und der Künste“) beinhaltet seine kritischen Äußerungen zur Geschichte. Auf den entsprechenden Seiten erwähnt er mit keinem Wort die Chronologie, die vermutlich in seiner Zeit noch keine besondere Rolle spielte. Auch kennt er noch den Begriff der Antike nicht, der erst später Verbreitung fand (in englischer Sprache erscheint das Wort zum ersten Male im Jahre 1530). Trotzdem gelten viele seiner kritischen Passagen den „alten“ griechischen und römischen Autoren und ihren Büchern, die unsere Hauptquelle der Vorstellungen von der Antike sind. Schon in Italien begann er sich intensiv mit „antiken“ Texten zu beschäftigen.

Über die Geschichtsschreiber allgemein hat er keine besonders hohe Meinung (und dabei nennt er überwiegend die „antiken“ Namen). Er schreibt (die Zitate wurden hinsichtlich Rechtschreibung und Satzzeichen von Christoph Däppen schonend modernisiert), dass „die meisten unter ihnen die allerverlogensten unter den Leuten sein müssen“ und „können daher nichts gewisses und beständiges schreiben“; „es gibt ihrer auch, die bloss zur Zierat und Belustigung den wahren Geschichten Lügen dazu setzen oder die Wahrheit gar vorbei gehen“. Sie schreiben mal - als Ausnahme von der Regel - einige wahre Geschichten nieder, „aber von andern darauf folgenden Geschichten muss ihnen die Schuld der Lüge beigemessen werden“. „Es sind noch ehender Historien-Schreiber, welchen noch grössere Lügen können beigemessen werden; denn ob sie gleich bei einer Sache gewesen, oder, dass sie anders geschehen sei, selbst gesehen, so bringen sie doch entweder aus Gunst oder aus Liebkosen und Schmeichelei lauter falsche Sachen wider die Wahrheit an Tag, [...] das Wahrhaftige aber gehen sie entweder gar vorbei oder machen es ganz gering und mangelhaftig.“ Wenn „sie sich unterstehen, den Ursprung ihrer Fürsten auf die ältesten Könige zu extendieren, und wenn sie mit Deduzierung ihres Geschlechts nicht können fortkommen, so muss ein fremder Urstamm und weit hergeholte Fabeln herhalten, dichten den Königen neue Namen an, und lügen nicht wenig darzu. [...] Überdies gibt es derer auch viele, die Historien schreiben, welche nicht das, was wahr ist, an Tag bringen wollen, sondern damit sie nur den Leser erlustieren, und das Bildnis eines wackern Fürsten, in wem sie wollen, exprimieren und erdichten mögen. [...] viele, die von Natur oder durch Kunst artig zu lügen gewusst, mit ihren scheinbaren Argumenten Fabulische Historien geschrieben, wie sie solche Narrenpossen als des Morganae und Magalonae, Melusinae, Amadisi, Florandi, Tyranti, Conamori, Arcturi, Dietheri, Lanceloti, Tristanni oder gar nichtswürdige Fabeln und erdichtete Schwärmereien der Poeten durch ihre Komödien am Tag gegeben.“

Als direkte Kritik des Antike-Märchens können folgende seine Äußerungen verstanden werden: „Ja es gibt ihrer auch, die aus wahrhaften Dingen Fabeln machen, als Gnidius, Cresias, Hecaraeus und viele andere alte Historien-Schreiber. [...] schreiben sie von unbekannten Ländern, in welche niemand lebenslang kommen ist, aber nichts anders als grausame Lügen, wie zu lesen ist von den Pigmoeen, Arimaspis, Gryphis, Gruibus, Gynocephalis, Astromoris, Hippopodibus, Phannisiis und Toglodyris. [...] was überdies Cornelius Tacitus, Marcellus, Orosius und Blondus von vielen Oertern in Teutschland schreiben, das kommt von der Wahrheit weit ab.“ Und „wenn die Griechischen Historici von Erfindung der Sachen schrieben, so massen sie sich alle Erfindung bei.“

Dem als Epigraph zu diesem Artikel vorgezogenen Zitat folg seine folgende Behauptung: „Denn da lesen wir, in ihren Schriften, wie Medo auf dem Wasser gespeist und der Athon gesegelt habe, und was sonst das verlogene Griechenland in den Historien sich untersteht. [...] so erzählen auch viele Historien-Schreiber viele Dinge, aber sie beweisen nicht alles, oder beweisen oftmals solche Sachen, die ganz nicht zu approbieren; [...] wenn sie den Herculem, Achillem, Hectorem, Theseum, Epaminondam, Lysandrum, Themistoclem, Xerxem, Cyrum, Darium, Alexandrum, Pyrrhum, Hannibalem, Scipionem, Pompejum und Caesarem mit trefflichem Lobe abmalen, so beschreiben sie nichts anderes als die grössten Strassen-Räuber und berühmtesten Diebe in der Welt, und lass es sein, dass sie auch gute Regenten anfänglich gewesen seien, so sind sie doch die schlimmsten und ärgsten hernach worden. “


17. Jahrhundert: Ein spanischer Erfinder der Antike

Von einem anderen Erfinder (einem Spanier, der Higuera hieß), der Texte antiker Autoren produzierte, schreibt die Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste (Herausgeber Ersch und Gruber, Leipzig, 1831, Zweite Section, Achter Theil, meine Heraushebung mit Kursiv in Fettschrift – E.G.):

HIGUERA (Hieronymus Romanns de la), ein spanischer Jesuit, zu Toledo 1538 geboren, erhielt daselbst, nach Vollendung seiner theologischen Studien, den philosophischen Lehrstuhl, und zeichnete sich so rühmlich aus, daß die Jesuiten ihn in ihre Gesellschaft zu bekommen wünschten. Nach langem Widerstreben trat er 1590 in den Orden, und starb den 13. September 1611 in feiner Vaterstadt. Als gelehrter Sprach- und Alterthumsforscher hat er sich bekannt gemacht durch seine Anmerkungen zu Luitprands Chronik und sein Dypticon Toletanum seu tabula Toletanae episcoporum ejusdem sedis. Antw. 1640. fol. Er mißbrauchte aber feine Talente und wurde als literarischer Falsarius berüchtigt, indem er unter des Flavius, Lucilius, Dexter und Anderer Namen Chroniken heraus gab, die, wo nicht ganz, doch größten Teils sein eignes Machwerk sind (Baur.)

Dexter ist der erfundene Name des erfundenen „römischen“ Autors, der - in einer von Higuera geschriebenen Chronik - die Zeit der erfundenen Anfänge des Christentums in Spanien beschreibt.
Interessant ist zu vermerken, dass im Mayers Enzyklopädischen Lexikon der Name Higuera nicht mehr vertreten ist. So werden nach und nach die Namen der erkannten Fälscher aus dem Verkehr gezogen. Ob das auch mit den Produkten der Fälschung so passiert? Bestimmt nicht mit allen, insbesondere nicht mit der überwiegenden Masse der Apokryphen, die als solche von den Historikern nie anerkannt wurden.

Higuera war kein Einzelfall: vor und nach ihm wurden die antiken Autoren von vielen anderen erdichtet. Eigentlich begann die Veröffentlichung von ausgedachten Werken der griechischen und römischen Autoren bald nach der Erfindung des Buchdrucks. Schon 1498 veröffentlichte Annius de Viterbe in Rom eine umfangreiche Sammlung von antiken und „noch viel älteren“ Autoren wie Bérose, Manéthon, Mégasthène, Archiloque, Myrsile, Fabius Pictor, Sempronius, Caton. Er behauptete, dass er die Manuskripte in Mantua gefunden hat. In Wirklichkeit waren das Erfindungen des dominikanischen Mönchs Jean Nanni (angeblich 1432- 1532).

Der berühmte Humanist Carolus Sigonius (1523-1584), in Wirklichkeit Carlo Sigonio, wurde in Modena geboren. Er war als Professor in Venedig, Padua und Bologna tätig. Sigonio beschäftigt sich in seinen umfangreichen Werken hauptsächlich mit der Geschichte des antiken Roms und des mittelalterlichen Italiens. Parallel dazu veröffentlichte er Werke von alten römischen und auch griechischen Autoren: 1555 gibt er eine Edition von Livius und die Fasti Consulares heraus, welche „eine präzise Kritik an der Chronologie der römischen Geschichte liefern“. 1557 übersetzt er Aristoteles’ „Rhetorik“ und einige Fragmente Ciceros. 1583 gibt er das Buch „Consolatio“ von Cicero heraus. Zwei Jahrhunderte später wurde ein Brief von Sigonius gefunden, in dem er erzählte, wie er Cicero erdichtete. Ob er auch Livius und andere antike Werke, die er veröffentlichte, selber geschrieben hat, wurde nie hinterfragt.

Paulus Merula (1558-1607), Jurist, Historiker, Bibliothekar schrieb eine Weltgeschichte, in der er ausgiebig römische Autoren zitierte, die nie existiert haben. Postnikov bringt auch weitere Beispiele dieser Art, die bis ins 20. Jh. reichen. Insgesamt, nach einer ca. 80 S. umfassender Analyse der Lage der antiken Literatur, kommt er zum Schluss, dass keine „antiken“ Werke existieren, die eine durchgehende Entstehungsgeschichte haben, die bis zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks reichen. Außerdem sei für viele berühmte „antike“ Autoren bekannt, dass deren Werke getürkt wurden (Vetruvius z. B.) oder sehr verdächtige Ursprünge haben (wie bei Platon). Nach weiteren 65 S., auf welchen die ganze „antike“ Literatur nach mehreren Gesichtspunkten unter die Lupe genommen wird, kommt Postnikov zum Schluss, dass alle „antiken“ Werke in der Renaissancezeit produziert wurden.


18. Jahrhundert: Der skeptische Jesuit erkennt keine Antike

Die These von der erfundenen Antike findet man schon bei Jean Hardouin am Ende des 17. Jh.. Jesuit und Universalgelehrte, langjähriger Direktor der französischen Königlichen Bibliothek, Philologe, Archäologe, Numismatiker und Historiker, war er zu seiner Lebenszeit einer der berühmtesten Gelehrten. Und seine Kritik der Geschichtsschreibung ging sehr weit. Nämlich behauptete J. Hardouin, dass die gesamte Menge der "antiken" Quellen (mit sehr wenigen Ausnahmen) Fälschungen aus dem 13. Jh. sind. Bringen wir dazu ein Zitat aus der „Großen Aktion“ von Uwe Topper. Neben der Aufzählung der wichtigsten Verdienste des Gelehrten vor der Wissenschaft, schrieb er Folgendes über seine kritische Position:

Er hatte nämlich schon 1690 in seiner Verteidigung des Briefes des Heiligen Chrysostomus an den Mönch Cäsar (Paris, 81 S.) auf den letzten drei Seiten behauptet, daß viele Werke vermeintlicher antiker Autoren wie Cassiodor, Isidor von Sevilla, St. Justin Märtyrer u.a. viele Jahrhunderte später erst geschrieben, also erfunden und gefälscht worden sind. Das löste bei seinen Kollegen einen großen Schrecken aus, nicht nur, weil ein derartiges Urteil von einem der gelehrtesten Männer seiner Zeit schwer abzulehnen war, sondern weil viele dieser Kollegen auch im Bilde waren über den gesamten Fälschungsvorgang und nur den Skandal scheuten. Dies zeigte sich an den zaghaften positiven Stimmen, die Hardouin erhielt.

Er verstärkte darum seine Behauptungen und hielt bald fast alle Bücher des klassischen Altertums mit Ausnahme einiger weniger – den Schriften des Cicero und Satyren des Horaz, der Naturgeschichte des Plinius und der Georgica des Vergil – für Fälschungen, die von Mönchen im 13. Jahrhundert verfaßt und schrittweise ins europäische Kulturgut eingeschleust worden sind. Dasselbe gelte ebenfalls für Kunstwerke, Steininschriften und Münzen und besonders auch für alle Konzilsakten vor dem Tridentinum (16. Jahrhundert), selbst für die griechische Übersetzung des Alten Testaments und die angebliche griechische Urfassung des Neuen Testaments. Sie sollen ebenfalls sehr spät abgefaßt sein. Hardouin erklärte nämlich mit guten Gründen, daß Jesus und die Apostel – wenn überhaupt – in Latein gepredigt hatten. Mit diesen Thesen brachte er die gesamte Wissenschaftlerwelt in hellen Aufruhr, was eben nur möglich war, weil die Argumente hieb- und stichfest waren und er als Person großes Ansehen genoß. Sein Orden maßregelte ihn und verlangte Widerrufung, die Hardouin aber nur lauwarm leistete. Als er 1729 starb, hatte er zahlreiche Anhänger und noch mehr Gegner auf den Plan gerufen, die sich sachkundige, aber auch fanatische Schriftgefechte lieferten. Seine nachträglich gefundenen Entwürfe waren noch viel schärfer im Ausdruck, denn sie bezeichneten die kirchlichen Geschichtswerke »als Arbeiten einer und derselben geheimen Verschwörung wider den rechten Glauben.« Als einen der Hauptfälscher nannte er den Archonten Severus (13. Jh.).

Eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einer alten Enzyklopädie zeigt die Beschreibung des Lebens von Jean Hardouin und seines Lebenswerks in Wikipedia. Nur einige Kürzungen, Anpassungen an die heutige Ausdrucksweise und Kommentare, wie das Wort Verschwörungstheorie wurden vom Wikipedia Autor in den alten Text hinein gebracht. Das sage ich nicht aus kritischer Absicht, sondern als Kompliment an den Autor, weil die meisten heutigen Nachschlagerwerke den Namen Hardouin vernachlässigen oder sich auf sehr kurze Bemerkungen zu seiner „historischen Verrücktheit“ beschränken. Hier diese Beschreibung aus Wikipedia:

Jean Hardouin (latinisiert auch Harduinus, * 23. Dezember 1646 in Quimper, Bretagne, Frankreich; † 3. September 1729 in Paris) war ein Jesuit, Philologe und Theologe. Geboren als Sohn eines Verlagsbuchhändlers, begann er früh, sich mit (u.a.) theologischen Themen auseinanderzusetzen.
Am 25. September 1660 trat er als Novize dem Orden der Jesuiten bei. Pater Charles Garnier bediente sich seiner Hilfe als Bibliothekar am Jesuiten-Kolleg Ludwigs XIV. in Paris. Nach dessen Tod wurde Harduinus 1683 sein Nachfolger in diesem Amt. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte er die Biographie Garniers. Er bekleidete zudem Lehrämter für Theologie, Literatur der Klassik und Rhetorik.

Er beschäftigte sich in seinen wissenschaftlichen Werken mit Sprachen und dem Altertum, der Geschichte, der Numismatik, der Philosophie und der Theologie. Besonders seine Ausgaben von Klassikern der Antike wurden geschätzt.
Hardouin verstieg sich in seinen wissenschaftlichen Werken meist in paradoxe Ideen. Eine von diesen war, dass bloß Ciceros Schriften, Plinius Naturgeschichte, Virgils Georgika und Horaz Satyren (wozu er zuweilen noch den Homer, Herodot und Plautus setzte) echte Werke des klassischen Altertums seien, während alle anderen alten Schriftsteller hingegen Fälschungen betrügerischer Mönche des 13. Jahrhunderts seien (Verschwörungstheorie).

Ebenso verwarf er fast alle alten Kunstwerke, Steinschriften und Münzen, die mit der Angabe alter Geschichtsschreiber übereinstimmen, als Arbeiten einer geheimen Verschwörung wider den rechten Glauben, und versuchte zu beweisen, dass nicht nur die griechische Übersetzung des alten, sondern auch die griechische Urschrift des neuen Testaments, nichts weiter wären als das Werk eines Gelehrten späterer Zeiten. Die Zuversicht, mit welcher er solche Behauptungen aufstellte, erregte großes Aufsehen, und Zeitgenossen vermuteten hinter seiner Arbeit jesuitische Aktionen zur Bekämpfung der Protestanten und Jansenisten, denen man nicht besser einen Abfalls von der wahren Religion nachweisen könnte, als die Quelle, auf die sie sich stützten, zu diskreditieren.

Mit seinen Thesen machte er sich aber auch in den Reihen des Jesuitenordens Gegner, so dass er 1709 einen Widerruf verfassen musste.

Obwohl er auch Erkenntnisse der Numismatik und Chronologie in bizarrer Weise in Frage stellte, sind seine Ausführungen und Erklärungen doch von einigem Wert für die Wissenschaft gewesen, da er auch durchaus korrekte Zusammenhänge richtig erkannte und durch hartnäckigen Skeptizismus viele alte Fehler erkannte und korrigierte.

Mit seiner chronologisch geordneten Konziliensammlung Conciliorum collectio regia maxima oder Acta conciliorum et epistolae decretates ac constitutiones summorum pontificum, die aus zwölf Bänden besteht und aus königlichen Geldern finanziert worden war, stieß er auf Widerstand unter anderem der Sorbonne. Es wurde daher auf Beschluss des Parlaments verboten, da es die Rechte der gallikanischen Kirche gegenüber dem Papst verletze und durch Zusätze und Weglassungen einen verfälschten Blick auf die Geschichte wirft. 1725 wurde das Werk nach dem Versprechen, einen Band mit berichtigenden Anmerkungen anzuhängen, wieder erlaubt.
Das ist leider fast alles, was wir heute über die kritische Tätigkeit von Hardouin wissen. Nach „Prolegomena ad censuram veterum scriptorum“, Paris, 1693 (Übersetzt etwa: „Einleitung zur strengen Kritik der Schreiber des Altertums“), hatte er keine Gelegenheit, seine kritischen Überlegungen in einem Werk zusammenzutragen und zu veröffentlichen. Nach seinem Tod wurden seine kritischen Werke und Manuskripte auf den Index gesetzt und teilweise vernichtet. Die wenigen erhaltenen Exemplare sind nur in Latein vorhanden und wurden nie in die modernen Sprachen übersetzt. Wozu auch? Wer braucht schon heute noch die Wahrheit über die Antike zu wissen?!


Literatur

Henrici Cornelii Agrippae. Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften, Cölln 1713

Agrippa v. Nettesheim. Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. Mauthner, Fritz (Hg.). München: Müller, 1913, in 2 B.

Ferdinand Gregorovius. Athen und Athenais. Schicksale einer Stadt und einer Kaiserin

Bernt Karger-Decker. Die Geschichte der Medizin von der Antike bis zur Gegenwart, Düsseldorf: Pathmos und Albatros, 2001.

M.M.Postnikov. Kritische Erforschung der Chronologie des Altertums, Band 1, Antike, Moskau, 2000 (Russ.).

Uwe Topper. Große Aktion, Tübingen, 1998.


Bilder

Bild 1. So oder etwa so sollten die neuen Häuser in Athen unter König Otto gebaut werden. Unten: die Ausgrabungsstätte in Olympia, die es ermöglichte (interessant zu wissen: wie?) die Rekonstruktion des typischen altgriechischen Hauses durchzuführen.

Bild 2. Aus solchen repräsentativen Gebäuden im klassischen Stil sollte die Stadtmitte der neu gebauten Stadt Athen bestehen. Nur einige wenige der Bauvorhaben wurden auch realisiert, wie dieses Gebäude der Akademie der Wissenschaften (erbaut 1859-85)

Bild 3. Fragment einer graphischen Rekonstruktion von Akropolis in der Römerzeit. Man sieht, dass die durch Otto befohlene Zerstörung sämtlicher Wohnhäuser auf der Akropolis sogar den Vorstellungen der heutigen Archäologen widerspricht.

Bild 4. Medizinische Instrumente aus der 1910 entstandenen Sammlung. Ob sie alle wirklich chirurgischen Zwecken dienen und ausschließlich bei Operationen verwendet werden sollten, kann der Leser selber überlegen.

Abb. 4a: Chirurgische Instrumente des Altertums Von links: Salbenreiber aus Ephesos (Figur aus Gußbronze, Schaft aus Schmiedebronze, abschraubbares Unterteil aus Serpentinstein); Teilstück einer ephesischen Sonde aus Bronze (2); ephesische Sonde aus Bronze (3); Teilstück einer ephesischen Sonde aus Elfenbein (4); ephesische Sonde aus Bronze (5); bronzener Krontrepan aus Ninive (6); ephesische Sonden aus Bronze (7 und 8)

Abb. 4b: Von links: Teilstück eines Kranioklast (zangenartiges Instrument zum Zerkleinern des perforierten Kindskopfes, das gleichzeitig zur Extraktion benutzt wurde); Blasensteinhaken (2); Lidhaken (3); Doppelinstrument: Löffel (oben), scharfer Haken (unten); scharfer Wundhaken (5) und (6) Sämtliche Geräte aus Bronze. Ephesos: 1,2, 5; Kos: 3, 4,6, hellenistische Epoche

Abb. 4c: Von links: Flaches Medikamentenschälchen (Kos) aus Bronze (1); Hälfte eines Instrumentenbehälters (Kos) aus Bronze (2); Salbenreiber (Kos) aus Bronze (3); flacher Löffel (Kos) aus Bronze (4); Teil eines olivenförmigen Kauters (Kos) aus Bronze (5); Lidhalter(Kos) aus Bronze (6 und 7); Cilienpinzette (Kos) aus Silber (10); kleines Messer mit konvexer Schneide (Kos) aus Silber (11)

Bild 5. Eine mehrstöckige Phantasie der Antikeforscher: bewegliches Hochhaus als ein Belagerungsturm. Vermutlich baute man – lt. Vorstellungen der Historiker - solche Monster direkt unter den feindlichen Mauern, denn einen fertigen Turm mit solchen Ausmaßen hätte niemand bis zur Festungsmauer schieben können.

Bild 6. Die Akropolis im Jahre 1687: eine lebendige Stadt mit vielen großen Häusern, genau wie in der „römischen“ Zeit. Waren vielleicht die Osmanen die „Römer“ unserer Geschichtsschreibung? Oder die späten Byzantiner kurz vor der osmanischen Eroberung. Hinter dem intakten Parthenon -Gebäude sieht man ein Minarett.

Teil 2.

Die neue Jahrhundertzählung war zuerst nicht mehr als ein technischer Notbehelf, verstärkte allerdings bald die Neigung der Historiker, Ereignisse und Zeugnisse auch dann nach der Zeitfolge einzuordnen, wenn man für sie keine feste Jahreszahl kannte - und das waren noch immer die meisten.
BORST, ARNO: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Berlin: Wagenbach, 1991, S. 85


Inhalt:
19. Jahrhundert: Berühmtester Erfinder der Antike Poggio Bracciolini wird entlarvt
1900: Antike als eine Erfindung der Renaissance
20. Jahrhundert: Wilhelm Kammeier und seine Kritik des Mittelalters
Heute: Der grobe Schwindel oder die erfundene Antike
Russen: Antike als Spätmittelalter
Laute Akkorde aus der Geschichte der Musik: Antike = Mittelalter
Schlussfolgerungen

19. Jahrhundert: Berühmtester Erfinder der Antike Poggio Bracciolini wird entlarvt
Den späten, also humanistischen, Charakter einzelner „antiker“ Werke haben englische, deutsche und französische Historiker des 19. Jh. festgestellt. Sie haben sich überwiegend mit der Entlarvung des berühmten „römischen“ Historikers Tacitus als einen erfundenen Autor beschäftigt und seine Werke als Apokryphen bezeichnet, also ihn und „seine“ historischen Schriften als ein Produkt der Renaissancezeit.
Eine kritische Betrachtung von „Annalen“ und „Geschichte“ von Tacitus begann Voltaire in seinem „Philosophischen Lexikon“. Weitere kritische Stimmen folgten, aber erst am Ende des 19. Jh. begann man ganz offen darüber zu sprechen, dass die Tacituswerke eine Renaissancefälschung darstellen. 1878 veröffentlichte John Wilson Ross (1818-1887) in London das Buch “Tacitus and Bracciolini: the Annals forged in the XVth century“ (Tacitus und Bracciolini: die Annalen wurden im 15. Jh. gefälscht), in welchem er die Beweisführung präsentierte für die Fälschung der Tacituswerke durch den oder nach einer Bestellung von dem berühmten italienischen Humanisten Poggio Bracciolini.
1890 präsentierte der Franzose P. Hochart, im Buch “De l‘Authenticite des Annales et des Histoires de Tacite” (Authentizität von Annalen und Geschichten von Tacitus) einen noch detaillierteren und noch besser begründeten Beweis dafür, dass Poggio die Werke von Tacitus fälschte oder fälschen ließ. In einem zusätzlichen Band antwortete er seinen Kritikern und vertiefte die Beweisführung noch weiter.
1920 veröffentlichte Leo Wiener im Buch, “Tacitus‘ Germania and other forgeries” (“Germania von Tacitus und weitere Fälschungen”) seine philologische Untersuchung der Tacituswerke und behauptete, dass auch Araber an dieser Fälschung beteiligt waren.
Alle diese kritischen Arbeiten wurden durch Historiker ignoriert. In Russland wurden sie in mehreren Büchern propagiert. Morozov zitierte ausführlich aus diesen Büchern und benutzte diesen Fälschungsfall für die Begründung seiner totalen Ablehnung der Antike. Auch Fomenko hat in mehreren Büchern den Fall detailliert beschrieben. Die entsprechenden Seiten aus der ersten englischen Übersetzung eines der Bücher Fomenkos veröffentlichte Günter Lelarge auf der Webseite der Zeitschrift „Zeitensprünge“. Leider wurde dieser Text von der Webseite später entfernt (Herr Illig mag keine Zitate von Fomenko). Uwe Topper in seiner „Großen Aktion“ beweist die Unechtheit von „Germania“.
Die Argumentation von Morosov wurde von Postnikov komprimiert und systematisiert präsentiert. Lt. Postnikov kann man die Argumente von Hochart folgendermaßen darstellen:
1. Die Manuskripte der Tacituswerke sind Zweifel erregend
2. Umstände der Auffindung der Manuskripte mit Hilfe von Poggio initiieren starke Verdachtsmomente über eine gezielte Fälschungsaktion
3. Es gibt viele „Informationen“ in „Annalen“ und „Geschichten“, deren Beschreibung unter den Bedingungen „seiner“ Epoche für Tacitus unmöglich war.
4. Es sind viele Spuren der Renaissancezeit in den Texten von Pseudo-Tacitus.
5. Die hohe Meinung vom klassischen Stil von Tacitus verschwindet beim Vergleich mit anderen Schriftstellern, die der gleichen Epoche zugeordnet sind.
6. Die Neigung zur Pornographie, die eine typische Erscheinung des 15. Jh. war, weckt weitere Verdachtsmomente. Übrigens wird auch die Echtheit von Petronius, der die gleiche Neigung hat und auch von Poggio „gefunden“ wurde, aus dem gleichen Grund angezweifelt.
7. Es herrscht die Meinung, dass verschiedene spätere Historiker wie Flavius, Plutarchos, Svetonius, Tertullianus, u. a. Angaben von Tacitus wiederholen. In Wirklichkeit aber ist es umgekehrt: er hat diese Angaben aus den Schriften dieser Autoren entnommen.
Zur Person von Poggio Bracciolini (angeblich 1380-1459) schrieb Lelarge, auf seine Fomenko-Übersetzung stützend, Folgendes in einer Internetdiskussion:
„Nehmen wir nur den berühmtesten Finder von antiken Dokumenten, der nach der Meinung von Zeitgenossen schreiben konnte wie die Kirchenväter - und auch die bis dahin unbekannte Germania von Tacitus unter mysteriösesten Umständen fand:
"Der aufwendige Lebensstil Poggio Bracciolini war teuer und bewirkte, daß er immer in Geldnot war. Eine zusätzliche Einnahmequelle war die Suche, die Präparation und die Herausgabe von Manuskript-Kopien antiker Autoren. Es war eine sehr profitable Quelle ... für das 15. Jh."
Mit Hilfe des Florentinischen Wissenschaftlers und Herausgebers ... Niccolo di‘ Niccoli (angeblich 1363-1437) gründete Poggio Bracciolini so etwas wie eine Werkstatt, um mit antiker Literatur zu handeln und versammelte Mitarbeiter, sehr gelehrt, aber alle mit einer grauen Vergangenheit waren
Die ersten Fundstücke wurden von Poggio Bracciolini und Bartelomeo die Monte Pulciano zur Zeit des Konstanzer Konzils gemacht. In dem verlassenen feuchten Turm des St. Gallener Klosters, in dem ein Gefangener nicht drei Tage überlebt hätte, hatten sie das Glück, einen ganzen Haufen antiker Manuskripte zu finden, nämlich die Werke von Quintilian, Valerius Flaccus, Asconius Pedianus, Nonius Marcellus, Probus und anderen.
Diese Entdeckung war nicht nur sensationell, sondern schuf auch eine literarische Epoche." (Fomenko, 247, pp. 363-366).
Bracciolini "fand" einige Zeit danach Fragmente "von Petronius" und Calpurnius‘ Bucolica (ibid.).
Die Umstände, unter denen all diese Funde gemacht wurden, wurden durch niemanden und nirgendwo abgeklärt.
Außer mit den Originalen handelte Bracciolini mit Kopien, die er für enorme Geldsummen verkaufte.
Zum Beispiel erwarb er nach dem Verkauf einer Kopie von Livius an Alfonso von Aragon eine Villa in Florenz.
Er verlangte 100 Dukaten vom Herzog von Estais (1.200 Francs) für Eusebius‘ Briefe. Poggios Kunden waren die Medici, Sforza, D‘Estais, aristokratische Familien Englands, das Herzogtum von Burgund, die Kardinäle Orsini und Colonna, so reiche Leute wie Bartelomea di Bardis, Universitäten, welche zu dieser Zeit ... gerade den Grundstock für Büchereien legten oder leidenschaftlich ihren Buchbestand erweiterten.
Die wichtigsten Kopien von Tacitus‘ ersten und zweiten mediceischen Handschriften wurden in florentinischen Buchläden aufbewahrt, unter deren Direktoren auch Poggio war.
Laut traditioneller Geschichte, waren diese Kopien die Prototypen aller anderen antiken Manuskripte von Tacitus. Die erste gedruckte Ausgabe wurde 1470 von dem "zweiten" mediceischen Manuskript angefertigt oder von einem anderen Manuskript, das in der venetianischen Libreria Vecchia bei St. Markus verwahrt wird."
Auch Hochart vermerkt, dass Poggio klare finanzielle Interessen hatte, neue Manuskripte zu „finden“, dass er literarisch sehr begabt und klassisch gut gebildet war und durchaus imstande war alleine oder mit seinen Mitarbeitern zusammen alle von ihm „gefundenen“ „antiken“ Manuskripte zu fälschen. Die Atmosphäre der Epoche war sehr förderlich für die „Wiederbelebung“ von klassischen Göttern, Künstlern und Schriftstellern.

Antike als eine Erfindung der Renaissance
Philologisch wurde um 1900 von Robert Baldauf begründet, dass viele mittelalterlichen Werke Früchte des Renaissancegeistes darstellen. Damit rückt „die Antike“ in die unmittelbare Nachbarschaft der Renaissancezeit. Noch mehr: im vierten Teil seines nie vollständig veröffentlichten Buchs „Historie und Kritik. (Einige kritische Bemerkungen), den er als „IV. Das Altertum [Römer und Griechen]“ betitelte und im Eigenverlag 1902 als eine Broschüre veröffentlichte, kommt Baldauf zum folgenden Schluss:
ziehen wir die Schlüsse: die durch weite Zeiträume getrennten: Homer, Aeschylus, Sophokles, Pindar, Aristoteles sind etwas näher zusammenzurücken. sie sind wohl alle kinder eines Jahrhunderts. ihre heimat ist aber gewiss nicht das alte Hellas, sondern das Italien des 14/15. Jahrhunderts gewesen, unsere Römer und Hellenen waren die italienischen humanisten.
noch einmal: die auf papyrus und pergament geschriebene geschichte der Griechen und der Römer ist durchweg, die auf erz, stein etc. geschriebene zum grossen teil eine geniale fälschung des italienischen humanismus. der humanismus war es, der verkündete: exegi monumentum aere perennius! (Ich habe mir ein Denkmal, fester als Kupfer, errichtet: erste Zeile aus einer berühmten Ode von Horatius frei übersetzt – E.G.).
Baldauf sieht diese Fälschung nicht als eine isolierte Aktion, sondern als einen Teil der Fälschung der Geschichte. So schreibt er weiter:
aber das ist nur die eine seite des humanismus. sein zweites grosses werk ist die aufzeichnung, d. h. fälschung der bibel, des alten wie des neuen testaments — und diese beiden fälschungswerke liessen ein drittes erstehen, die fälschung der ganzen frühmittelalterlichen quellenlitteratur. planmassig, systematisch erdichtet, erfunden ist die ganze geschichte der europäischen Völker von anfang an bis ins 13. Jahrhundert, verfälscht bis in die zeit der reformation.
der italienische humanismus hat der erde die schriftlich fixierte welt des altertnms und die bibel geschenkt, und im verein mit den humanisten der andern länder die geschichte des frühen mittelalters.
die periode des humanismus ist keine receptive zeit gelehrten sammeleifers gewesen, sondern eine welt der ureigensten, produktivsten, ungeheuersten geistigen thätigkeit: über ein halbes Jahrtausend ist die bahn gegangen, die er gewiesen hat.
das Christentum hat bis ans ende des 13. Jahrhunderts nur in der tradition bestanden, in der tradition, die durch die welt germanischen götterglaubens tief beeinflusst war, und aus dieser mit heidnischgermanischen elementen durchsetzten christlichen tradition schöpften die italienischen bibel-schriftsteller.
diese behauptungen klingen abenteuerlich, mehr als seltsam, aber sie lassen sich beweisen, einige der beweise liegen hier vor. andere werden folgen, sie werden folgen, bis der humanismus in seinem innersten wesen erkannt ist.
thöricht wäre es, über die vorliegenden thesen „zur tagesordnung überzugehen".
„es giebt mehr ding‘ im himmel und auf erden,
als eure schulweisheit sich träumt, Horatio!"
Diese weiteren Beweise haben die russischen Antikeforscher; wie wir schon teilweise gesehen haben und unten noch einmal betont werden, erbracht. Es ist erstaunlich, wie nah die Folgerungen von diesen an den Schlüssen von Baldauf liegen, obwohl die Russen seine Schriften nicht kannten.

Wilhelm Kammeier und seine Kritik des Mittelalters
Zwar findet man schon bei Wilhelm Kammeier einige scharfe Bemerkungen über das Wesen der Spätantike, aber zu einem Konzept der erfundenen Antike ist er nicht durchgedrungen. Sein Hauptverdienst ist die Verbreitung der klaren Vorstellung von der Fälschung der mittelalterlichen Geschichte. Hier einige seiner Beobachtungen, die unseren geschichtlichen Vorstellungen widersprechen:
• Die Stadt Rom existiert erst seit dem 15. Jh.. Im 14. Jh. war Rom nur ein Dorf mit ein paar unbedeutenden Ruinen.
• Die römisch-katholische Kirche und das Papsttum konnten nur im ausgehenden 14. Jh. Entstehen.
• Die Vorstellung von einem großen Schisma der christlichen Kirche im 14. Jh. ist eine große Lüge.
• 1300 existierten noch keine Universalkirche und kein universal-kirchliches Dogma.
Also sehen wir bei Kammeier die gleiche Verschiebung der Geschichte um ca. 11 Jahrhunderte wie bei Fomenko, wenn auch ohne klare Verallgemeinerung chronologischer Art.
Etwas mehr mit der Erfindung der Antike hat seine scharfe Beobachtung zu tun, dass auf eine sehr geheimnisvolle Art von allen wichtigsten Werken der Antike ins Mittelalter je ein Exemplar gerettet wurde. Fast nie mehrere Exemplare, sondern beinahe immer genau ein einziges Exemplar. Die so erhaltenen Exemplare gehörten ins 5. bis 9. Jh. Er kommt zum Schluss, dass dies von einer Fälschung der antiken Werke spricht, sieht aber die Existenz der Antike dadurch nicht gefährdet, sonder folgert daraus die Existenz einer großen Verschwörung.
Kammeier hat ein Kapitel der Verfälschung der Germania von Tacitus gewidmet und dabei auch den Bericht Caesars über den Gallischen Krieg als verfälscht angesehen. Er zweifelt aber nicht an der Existenz von Caesar und Tacitus und auch nicht an der ursprünglicher Autorschaft dieser beiden, sondern er ist überzeugt, dass diese Werke uns in einer verfälschten Form vorliegen.

Der grobe Schwindel oder die erfundene Antike
Im deutschsprachigen Raum beschäftigte sich mit dem Thema der Antikeerfindung Dr. Roman Landau (Hamburg), Historiker, Journalist, Fotograf und Herausgeber von geschichtskritischen Büchern. Er und seine Autoren, die aber noch nie anders als „Papiertiger“ in Erscheinung getreten sind, haben etwa 10 Bücher veröffentlicht und einige davon behandeln das Thema dieses Artikels. Man kann durchaus vermuten, dass hinter der ganzen „Hamburger Neuen Historischen Schule“ nur der Mentor selbst sich verbirgt und damit einen Bourbaki mit der Innenseite nach außen (bei Bourbaki veröffentlichen zahlreiche Mathematiker verschiedene Bücher unter diesem einen Künstlernamen). Hinter dieser nett aussehenden Zurückhaltung verbirgt sich ein originell denkender und scharfsinniger Kritiker, der neue Bilder der Vergangenheit gut beschreibt, aber leider nichts von der viel weiter gehenden russischen kritischen Forschung weiß.
Der Erfindung der Antike widmeten die „Hamburger Schüler“ zwei Bücher: von Lucas Brasi, was ein Pseudonym von Ralph Davidson sein soll (das Buch hieß 1995 „Der grobe Schwindel“ und 2005 „Die erfundene Antike“), sowie „Der Zivilisationsprozess“ von Ralph Davidson, zu welchem Hanna Eisler eine Einführung schrieb. Im Vorwort zur zweiten Auflage schrieb er folgendes:
„Diese Arbeit ist die überarbeitete Version von „Der große Schwindel", der 1995 erschien und bei vielen kritischen Historikern auf großes Interesse gestoßen ist. Heribert Illlig schrieb z.B. im Juni 1994, daß er diesen Text mit dem größten Vergnügen gelesen habe (vermutlich noch als Manuskript – E.G.) und erstaunt war, wie zwei Menschen aneinander vorbei forschen und zu vielen ähnlichen Problemstellungen finden wie im Falle von uns beiden. Insbesondere die Gleichsetzung von Tyrus und Troia fand er nachdenkenswert, aber auch bei den Ethnien und Völkern fand er meine Argumentation sehr überzeugend.“
Noch ein Zitat:
„Es ist erstaunlich, daß die griechisch-römische Antike heute immer noch für eine Realität gehalten wird. Und daß sich so viele intelligente Menschen an der Ausschmückung dieser Fiktion beteiligen. Wie ist das möglich? Vermutlich hängt es damit zusammen, daß jeder Gelehrte nur einen kleinen Teil der Fiktion überblickt. Und daß die historischen Wissenschaften so hochgradig arbeitsteilig sind, daß der Einzelne überfordert wäre, das Gesamtbild kritisch zu hinterfragen. Möglich wäre natürlich auch das, was Matthias Hone (DIE WELT) kürzlich festgestellt hat: daß wir einfach zu blöd sind und laufend an unserer eigenen Blödheit scheitern.“
Dass seine Kollegen Historiker eine Mafia darstellen, die mit aller Gewalt und mit ihrer Herrschaft in den Massenmedien die Menschheit absichtlich zwingen, an die von dieser Mafia ausgedachten Märchen zu glauben, lässt er nicht zu. Noch mehr: er selber hat noch vor kurzem vielen Märchen seiner Zunftgenossen Glauben geschenkt:
„Die eigentliche Schwäche des Textes, die sich erst im Laufe der Jahre herauskristallisierte, bestand aber darin, daß ich noch zu vieles aus der herrschenden Lehre für wahr erachtet hatte. (Weitere Studien, vor allem aber intensives Nachdenken, führten dann zu dem Text „Der Zivilisationsprozeß", der den vorliegenden Text in gewisserweise im Hegelschen Sinne „aufhebt".) Heute halte ich die griechisch-römische Antike in einem noch größerem Maße für ein Produkt der mittelalterlichen Geschichtsklitterung als damals.“
Ob diese Deklaration mit dem Titel „Die erfundene Antike“ voll übereinstimmt, bleibt dem Leser enthalten: ist doch das Buch mit der alten Ausgabe fast identisch. Auch hat es der in Mailand geborene und in München und London studierende Brasi, der als freier Schriftsteller 1995 in Lausanne lebte, in diesen Jahren nicht geschafft, die englische Übersetzung von Fomenko zu lesen (auch Kammeier und Baldauf scheint er nicht zu kennen). Die chronologischen Erkenntnisse von Fomenko, die die ganze Antike in die spätmittelalterliche Epoche katapultieren, lassen ihn völlig kalt (übrigens versucht er seine ganze Kritik, ohne das Wort Chronologie nur zu erwähnen, durchzuziehen).
Trotzdem gibt er zu, „daß Platon (als Mensch) natürlich erstens nie existiert hat und die (also „seine“ – E.G.) Texte zweitens im Mittelalter geschrieben worden sind“. Weil der so überlieferte Platon viele Fehler enthält, die sich „erstaunlicherweise auch in antiken Platonzitaten, vor allem bei Schriftstellern der Kaiserzeit, finden“, kommt Brasi zum Schluss, dass auch die antiken Schriftsteller der Kaiserzeit sehr verdächtig sind.
„Hätte man Platon in Athen gelesen und verwirklicht, dann hätte es die griechische Antike nämlich nicht geben dürfen: „Hätte er als Gesetzgeber das Hellenentum beherrscht, dann wäre damals durch ihn nahezu die gesamte wissenschaftliche und schöngeistige Literatur der griechischen Antike öffentlich verbrannt worden." (156, Orthbandt)“
Dass Kritiker Brasi keinesfalls die Antike radikal streicht, sondern diese nur im Rang etwas herunter schiebt, zeigt sein Reklametext auf dem Buchumschlag:
Die Geschichte der griechisch-römischen Antike ist voller Ungereimtheiten, die von der offiziösen Historiographie zwar nicht geleugnet werden, über die man aber nur höchst ungern spricht. Um diese Ungereimtheiten aufzulösen, analysiert [...] Brasi die wichtigsten Quellen der Antike. Aus der sich daraus ergebenden Indizienkette wird deutlich, daß unser Bild von der Antike eine Fiktion ist. Athen und Rom waren keine Zentren der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Macht, sondern Randgebiete der orientalischen Hochkulturen. Alexander der Große war ebensowenig ein Europäer wie Aristoteles. Unser Bild von der Antike, das wir hauptsächlich den (militaristischen) Staats-Historikern des 19. Jhds. verdanken, ist sowohl mit den Quellen-Texten als auch mit den Fakten der Hilfswissenschaften unvereinbar.“
Gut und schön, aber der Antikekritiker Brasi vergisst, dass die „orientalischen Hochkulturen“ auch nur ein Märchen der Historiker sind, die auf der falschen Chronologie und Verdoppelung und Vervielfachung der späteren vorderasiatischen Kulturen des Mittelalters basieren. Die Notwendigkeit einer vollständigen Streichung der Antike aus der konventionellen Chronologie folgt lt. Morosov, Postnikov und Fomenko auch aus der Analyse und genaueren Datierung mit Hilfe der retrospektiven Berechnungen der astronomischen Angaben in den „antiken“ Schriften.

Antike als Spätmittelalter
Anatoli Fomenko, ein Schüler von Postnikov was die Geschichtskritik anbetrifft, setzte die Kritik von Morozov fort und errichtet ganz klare Vorstellungen von der Fälschung der Antike. Seine sehr detaillierte Theorie, in der er für viele historische Persönlichkeiten der Antike (insbesondere der römischen) ganz klar die mittelalterlichen Prototypen nennt, wurde in zahlreichen Büchern nach und nach entwickelt und fand im Buch aus der Literaturliste zu diesem Artikel 2005 eine vorläufige Vollendung. Dieses dicke Buch, in dem allein der Hauptteil ohne Anlagen ca. 650 S. hat, kann hier leider nur stichwortartig beschrieben werden.
Die griechische Antike betrachtet Fomenko als ein Abbild der mittelalterlichen Geschichte Griechenlands in den 11.-16. Jh. was eine chronologische Verschiebung um etwa 1800 Jahre bedeutet. Dazu einige Stichworte und Gleichsetzungen (bei allen ist die chronologische Verschiebung etwa 1750-1820 Jahre lang):
Berühmter Perserkönig Darius I = Friedrich II, König von Sizilien (1296-1337) und Oberherrscher von Athen seit 1311 [M. E. pass zu Darius besser der andere Friedrich II, der letzte der großen Stauferkaiser (Kaiser seit 1220, gest. 1250), der ein deutsche König seit 1198 und auch ein König von Sizilien war.]
Perserkönig Kyros = Karl I von Anjou (König 1265-1285)
Homer = Dichter Saint Homer aus dem Homer (oder Omer)-Geschlecht, deren Vertreter am Krieg in Italien (=Großgriechenland) teilnahmen, in dem der siegreiche Karl I von Anjou ein Ende der Stauferdynastie im Reich erzwang. Den Krieg hält Fomenko für den Prototyp des Troyakrieges.
Perserkönig Kambyses = Karl II von Anjou (König von Neapel 1285-1209)
300 Spartaner von Leonidas = 300 gut bewaffnete mittelalterliche Ritter des Herzogs Jean de la Roche, die 1275 in der Nähe der Thermopylen eine riesige Armee der Türken, Griechen und Kumanen besiegte.
Peloponesischer Krieg = Krieg in Griechenland in den Jahren 1374-1387 zwischen dem Herzogtum Athen und den Navarresen-Armee an der Halbinsel Peloponnes
Sparta der griechischen Antike = mittelalterlicher Despotat von Mistra (1348-1460)
Der antike Platon = mittelalterlicher Philosoph Plethon (gest. 1450 oder 1452)
Phillip II = Sultan Mechmet II (1432-1484)
Ende der klassischen Periode in Griechenland = Eroberung des Byzantinischen Kaiserreichs durch die Osmanen (15. Jh.)
Die Identifizierung der römischen Kaiserzeit mit der Zeit der Staufer, die Fomenko detailliert begründet, versetzt die ganze Antike in das Spätmittelalter. Es muss aber keinesfalls bedeuten, dass wir die konventionelle Beschreibung des Spätmittelalters für besonders glaubwürdig halten sollten. Diese Gleichsetzung ist eine Gleichsetzung der Beschreibungen, nichts mehr.

Geschichte der Musik: Antike = Mittelalter
Eine sehr starke Unterstützung bekamen Kritiker des Antike-Phantoms von einer völlig unerwarteten Seite. Der professioneller Historiker der Musik, russischer Wissenschaftler, Professor des Konservatoriums in St.-Petersburg und Autor zahlreicher Bücher, Forschungsartikel und Beiträge in verschiedenen Enzyklopädien Eugen Herzmann (Russisch Gerzman) veröffentlichte ein dickes Buch (mit Abbildungen fast 600 S.), in dem er Ergebnisse seiner 21 Bücher, Lehrbücher und Broschüren, seiner 47 Forschungsartikel und mehrerer Vorträge zusammenfasste. Der Autor ist ein habilitierter Historiker und ein führender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Russischen Institut für Kunstgeschichte in St.-Petersburg.
Im Buch wurden fast 300 musikalische Manuskripte analysiert. Und der Autor hat eine vollständige Liste aller bekannten Musiker des Altertums zusammengestellt, sowie aller musikalischen Traktate, und die entsprechenden chronologischen Daten unter die Lupe genommen. Er versuchte auch herauszufinden, wie diese Daten entstanden sind. Sein Schluss ist niederschmetternd: praktisch für kein altes Manuskript (er fand nur eine Ausnahme von dieser Regel) ist es möglich, die Zeit der Entstehung sicher festzulegen.
Die Geschichte der alten Musik wurde in den letzten vier Jahrhunderten entwickelt. Die gängige Datierung wurde auf Grund der konventionellen Chronologie der Weltgeschichte produziert. Wenn in einem Manuskript solche Namen wie Aristoteles, Euklides, Plutarchos, Ptolemäos, Kassiodor etc. vorkamen oder wenn man diese bekannten historischen Persönlichkeiten für Autoren dieser Werke hielt, dann wurden auch die Manuskripte in die entsprechende Epoche datiert. Wenn aber ein Autor keine Spuren in der Geschichte hinterließ, was oft vorkommt, dann wurden die Traktate sehr willkürlich und ungefähr datiert. Leider hat man diese Datierungen mit der Zeit immer mehr für absolut richtig gehalten. Wenn aber eine Datierung von Anfang an sehr ungenau war (z. B. „am Anfang unserer Jahreszählung“), dann hat jeder Forscher sich frei gefühlt, ein ihm passendes Jahrhundert auszuwählen, was auch praktisch geschah und zu Schwankungen in Rahmen von einigen Jahrhunderten führte.
Trotzdem war die allgemeine Meinung die gleiche, wie in der Chronologie der Weltgeschichte: die Chronologie der Musik ist abgeschlossen und gut bekannt. Lange stellte keiner z.B. die Frage, ob ein Autor Euklides auch wirklich mit dem Mathematiker Euklides unbedingt identisch sein muss (oder war). Und als man doch zum Schluss kam, dass es ein Pseudo-Euklides war, wusste man nichts über die Datierung seines Lebens. Trotzdem blieb man bei der alten Datierung nach Lebensjahren des Mathematikers.
Wichtig sind viele Bemerkungen allgemeiner Natur, die das Buch beinhaltet. So ist der Autor der Meinung, dass jede neue Generation der Wissenschaftler unbedingt die Grundlagen ihres Wissensgebiets hinterfragen soll. Wenn man ganz sicher ist, dass mit dem Basis der Kenntnisse alles in Ordnung ist, kann man zur eigenen Forschung übergehen. Das diese Hinterfragung eine sehr schwierige, oft fast unmögliche Sache ist, erfuhr er aus seiner eigenen Forschungsarbeit: sehr lange hatte er keinen Zweifel an der Richtigkeit der Musikchronologie gehabt und ruhig im Rahmen der traditionellen Vorstellungen von der Geschichte der Musik gearbeitet. Man muss den Mut aufbringen, um Fragen auch über die „ganz klaren“ Aspekte einer Theorie zu stellen und auch die kleinsten Diskrepanzen detailliert zu erforschen. Nur die Wissenschaftler waren wirklich erfolgreich, die gegen den Mainstream der Wissenschaft zu agieren wagten. Und man muss immer in Erinnerung halten, dass „die einzige Garantie (für die Richtigkeit unserer historischen Vorstellungen – E.G.) die Autorität der heutigen Wissenschaft in Form der angenommenen historischen Chronologie ist, und keine andere Garantie, wie scheint, existiert“.
Herzmann kommt zum Schluss, dass die vorhandenen Kenntnisse über die Musik in den Jahrhunderten 13. vor Chr. bis 5. nach Chr. (das sind insgesamt 18 Jahrhunderte) nur für die Belegung von zehn Jahrhunderten der Musik in dieser Periode ausreichen. Acht Jahrhunderte sind überflüssig. Auch in der byzantinischen Geschichte kann man aus 11 Jahrhunderten nur sechs letzte mühsam belegen. Noch eine unerklärliche Tatsache stellt die ganze Chronologie der Antike in Frage: nur in den Jahrhunderten 5 und 4 vor Chr. ist eine Entwicklung der Musik vorhanden, in der ganzen Zeit vorher und nachher bleibt die Musik plötzlich stehen und entwickelt sich überhaupt nicht mehr weiter. Aus seiner Expertensicht ist so etwas absolut unmöglich: Musik ist eine lebendige Kunst und hat sich immer sehr schnell weiterentwickelt.
Auch in der byzantinischen Musik ist die Lage sehr rätselhaft. Kirchliche Dokumentation berichtet ständig über die musikalische Seite der Liturgie, die mehrere Male neu geordnet wird, aber keine Manuskripte oder Bücher mit den entsprechenden Texten sind vorhanden. In den Jahrhunderten 5-10 nach Chr. sind Namen von Dichtern bekannt, aber kein einziger von einem Komponisten. Dann bis zum 13. Jh. verschwinden auch die Poeten. Und erst im 13.-15. Jh. sind die Namen von Dichtern wie auch von Komponisten vorhanden.
Auch die musikalische Theorie und die Philosophie der Musik bewegen sich sehr komisch. Nach einer gewissen Entwicklung kommt der Stillstand und nach einigen Jahrhunderten beginnt die alte Entwicklung der Theorie vom gleichen Ausgangspunk wieder. Und das wiederholt sich mehrere Male. So hat z.B. eine Diskussion darüber, ob die Musik zu Mut und Tapferkeit erziehen kann, lt. konventioneller Chronologie in einem solchen Zickzack-Kurs 10 Jahrhunderte gedauert. Dazu schreibt Herzmann:
„Nur ein Grund zwingt uns zu glauben, dass die alte Musikgeschichte (und überhaupt die ganze alte Geschichte) so langsam und passiv verlief: die konventionelle chronologisch-historische Konzeption. Und was, wenn sie nicht richtig ist?
[...] Jetzt ist es absolut klar, dass das Bild der Geschichte der alten Musik in der Musikwissenschat ist primitiv, falsch und nicht nur entspricht keinesfalls vielen festgestellten Gesetzmäßigkeiten des musikalisch-historischen Prozesses, sondern oft auch der elementaren Logik. Noch mehr, es ist in vielen Aspekten widersprüchlich ...“
Am Ende des Buchs kommt der Autor zu folgenden Schlüssen (S. 521 ff.):
• Die Geschichte der alten Musik ist viel kürzer, als man bis heute annimmt: aus 28 Jahrhunderten sind höchstens 16 durch das vorhandene Material belegt, mindestens 12 müssen gestrichen werden
• Die Unterscheidung der alten griechischen und byzantinischen Musik ist praktisch unmöglich, weil nur im 13. Jh. erste Unterschiede entstehen. (Wir würden sagen: die altgriechische Musik ist die byzantinische Musik vor dem 13. Jh.)
• Nur ab den 12. Jh. kann man eine christliche Richtung in der überwiegend heidnischen Musik ausmachen, die sich dann langsam entwickelt
• Ein sehr großer Teil der altgriechischen Musik ist praktisch identisch mit der byzantinischen des 10.-12. Jh.
• Erst im 10.-12. Jh. wird die Verwendung der altgriechischen musikalischen Notation langsam durch die neue byzantinische ersetzt.

Schlussfolgerungen.
Die Antike ist ein Kopfprodukt der Humanisten, die ihre unreifen chronologischen Vorstellungen durch immer neue Imitationen von Werken, die sie dem Altertum zuschrieben, zum Dehnen zwangen, auf über 1000 Jahren streckten und letztendlich in die 1000-2000 Jahre entfernte Vergangenheit abschickten. In Wirklichkeit aber war die einzige echte Antike in den an die Renaissancezeit unmittelbar grenzenden Jahrhunderten ab ca. 1200 n. Chr. Sie trägt heute sogar einige Züge der Renaissanceepoche selbst. Die so erfundene Antike wurde dann zwischen ca. 1600-1800 von zahlreichen Historikern durch weitere Beschreibungen zu einer historischen Selbstverständlichkeit stilisiert und wird bis heute weiter untermauert. Kritische Forschung – in erster Linie in Deutschland und in Russland – hat die Mechanismen dieser großen Mystifikation entlarvt und damit einen wichtigen Beitrag zur Korrektur unserer Vergangenheitsvorstellungen erbracht.

Literatur
Lucas Brasi, Die erfundene Antike. Einführung in die Quellenkritik, Hamburg, 2004
Anatoli Fomenko. Antike als Mittelalter, St.-Petersburg, 2005 (Russ.)
Eugen Herzmann, Geheimnisse der Geschichte der alten Musik, St.-Petersburg, 2004 (Russ.)
Eugen Gabowitsch, Scaliger, Newton und Hardouin: Wer hatte Recht? EFODON Synesis, Nr. 42, 1999, Heft 6 (November/Dezember), 45-46.
Ferdinand Gregorovius. Athen und Athenais. Schicksale einer Stadt und einer Kaiserin im byzantinischen Reich. Essen: Emil Vollmer, o.J.A.
P. HOCHART. De l‘Authenticite des Annales et des Histoires de Tacite, 1880.
Wilhelm Kammeier. Die Fälschung der Geschichte des Urchristentums, Viöl, 2001.
M.M.Postnikov. Kritische Erforschung der Chronologie des Altertums, Band 1, Antike, Moskau, 2000 (Russ.).
JOHN WILSON ROSS. TACITUS AND BRACCIOLINI. THE ANNALS FORGED IN THE XVth CENTURY. London,1878. s. auch https://library.beau.org/gutenberg/etext05/8tcbr10.txt
Uwe Topper. Große Aktion, Tübingen, 1998
Leo Wiener. Tacitus‘ Germania and other forgeries, 1920

Bilder
Bild 7. Diese eindeutig spätmittelalterliche Festung Eluitherai im Nordwesten von Attika stammt nach Meinung der Wissenschaftler aus dem 4. Jh. vor Chr. Wissenschaft macht blind: sie merkt keine Spuren des Mittelalters, weil für sie viel lohnender ist, alles der Antike zuzuschreiben.
Bild 8. Die heutige Ruinenstadt Mistra war noch im 19. Jh. bewohnt. Als eine intakte Stadt zeigt sie diese alte Zeichnung (Stich) aus dem 17. Jh. (Athen, Gennadios-Bibliothek). Oben steht „Misitra ehemals Sparta“ auf Latein geschrieben. Genau das behauptet Fomenko auf Grund seiner chronologischen Recherchen. Das Ende der Stadt kam nach der Gründung von Neu-Sparta durch König Otto im Jahre 1831.
Bild 9. Athen: ein früher Stadtplan. Parthenon sieht wie eine „ganz normale“ Domkirche aus, keinesfalls als eine notreparierte „altgriechische“ Ruine. Das war die Kirche der Jungfrau Maria
Bild 10. Nicht schlecht wurde die spätmittelalterliche Kirche der Jungfrau Maria gebaut, wenn sie nach einer gewaltigen Explosion des Schießpulvers immer noch so aussah. Nämlich, endlich wie ... Parthenon.
Bild 11. So sah die alte Notation für die Choralmusik aus.
Bild 12. Das Buch von Herzmann. Der Umschlag zeigt eine „antike“ Musikantin und einen alten Musiker aus alten Zeiten, der mit alten Zeichen eine Melodie aufschreibt. Oder?