Aus: Uwe Topper, Die »Große Aktion« - Europas erfundene Geschichte

Aus: Uwe Topper, Die »Große Aktion« - Europas erfundene Geschichte (Tübingen 1998, S. 267 bis 274 der 2. Aufl., 2000)

 

Fazit

 

Athene war eine mächtige Göttin. Sie war dem Kopf ihres Vaters Zeus, des höchsten der Götter, entsprungen, eine echte Kopfgeburt, nicht aus Fleisch und Blut, sondern ein Gedankenblitz, darum strahlend schön und anbetungswürdig.

So sehe ich auch die Kirchengeschichte des ersten Jahrtausends und einen großen Teil der klassischen Literatur: geschaffen von klugen Köpfen, bewundernswert und wirkungsvoll.

Wenn durch mein Buch der Eindruck entstanden ist, daß alle diese erhebenden und lehrenden Bücher der Bibel und Kirchengeschichte, ja viele heidnische Werke ebenfalls, sich als Fälschung und Betrug erweisen, dann muß ich noch einmal korrigieren: Es geht um ihre Datierung, ihre Urheberschaft und den zur "Realität" gerechneten Inhalt - diese sind unsinnig. Die Bücher selbst jedoch existieren (meistens), sie sind uns nicht aufgeschwatzt ohne Belegexemplar.

Wenn man die zahlreichen Handschriften und Erstdrucke ihres Pseudonyms entkleiden würde, also die "Roswitha" tatsächlich als Gemeinschaftsarbeit eines Freundeskreises um Pirkheimers Tochter anerkennen würde, oder die inspirierten Werke des Dionysius "Areopagita" als Mitauslöser der Gotik geistbewegend für das ‚13. Jahrhundert‘ sähe, oder die Fabeln um das Leben Jesu in den Evangelien als Ritterroman neben König Arthur und die Gralsliteratur stellen würde, dann - so meine ich - büßten sie nichts von ihrem Wert ein, sondern könnten endlich zeitgerecht gewürdigt werden und verlören den ihnen anhaftenden Geruch von Lüge und Propaganda.

 

Einwand

 

Gegen meine neue Geschichtssicht haben sich schon zahlreiche Stimmen gemeldet und die Widersprüche und Unklarheiten, die sich da auftun, herausgestellt. Die Frage Nummer Eins meiner Kritiker bleibt die nach dem Grund für die Große Aktion: "Warum sollten denn so viele Menschen generationenlang an einer derartig umfassenden Fälschung der Geschichte gearbeitet haben?" Diese Frage stellt vor allem der, der das von mir hier knapp zusammengefaßte Geschehen als einen zielbewußten, streng geplanten und kontinuierlich durchgeführten Arbeitsgang einer kleinen Gruppe Intellektueller ansieht. Vielleicht hat Kammeier es so gesehen, vielleicht haben wir es auch nur in seine Bücher hineingelesen. Der Begriff Große Aktion verleitet zu diesem Gedanken.

Dagegen habe ich gezeigt, daß der Vorgang eher wie ein Tanz aussah, mit Piruetten und Zick-zack-Läufen, mit Vor- und Rückschritten, mit Gegnern und Verbündeten. Ich möchte sogar soweit gehen zu behaupten, daß viele der schreibenden Mönche sich der Tragweite ihrer Fälschung nicht bewußt waren und vor allem keinen Überblick über das Gesamtgefüge der Aktion hatten. Aber auch die Herren in leitenden Positionen waren nicht alle vom Kaliber eines Piccolomini. Statt Aktion sollte ein anderer Ausdruck geprägt werden: Schöpfung, Neuschöpfung der Geschichte, Geschichtsschöpfung.

Selbst Wissenschaftler wie Leopold Ranke, die sich ihr ganzes Leben lang mit Originaldokumenten und detaillierter Fachliteratur beschäftigten, schufen Geschichte, und zwar eine völlig neue Geschichte, wie sie bis dahin nicht bekannt war. Aus den einzelnen Mosaiksteinchen, die vorlagen, fügten sie ein Gesamtbild, das vorher nie existiert hatte, höchstens geahnt worden war von einigen wenigen. Nach der Niederschrift ist es Wirklichkeit, geschichtliche Realität, prägend für kommende Generationen. Auch wenn wir diese geniale Arbeit bewundern und in den Schulen lehren, dürfen wir nicht so naiv sein zu glauben, daß sie etwas anderes wäre als eben Rankes Idee und die seiner Zeitgenossen. Diese ist jedoch verschieden von der Sicht, die die Menschen der betreffenden Vergangenheit von ihrer eigenen Welt hatten. Vor Ranke (um beim Beispiel zu bleiben) war manches noch offen, danach ist die Geschichte festgelegt.

Nach einer derart genialen Gestaltung eines Geschichtsbildes - ich denke auch an Winckelmann, der unser Griechenbild festlegte - kann das Mosaik nicht mehr verworfen werden, höchstens noch ausgebessert und, wo Lücken blieben, ergänzt werden. Dasselbe gilt natürlich auch für die jeweiligen Vorgänger, sei es von Ranke oder Winckelmann, die schon deren Geschichtsvision einschränkten und vorbestimmten. So ist die spätmittelalterliche und humanistische Geschichtsschöpfung ein allmählich gewachsenes Monster, das kaum noch echte Korrekturen zuläßt.

Es wuchs wild auf, nur von sich selbst kontrolliert, ohne genaue Kenntnis seines Ziels. Oft haben entgegengesetzte Kräfte beim Wachstum mitgeholfen: aufbauend und zerstörend, Frieden und Krieg, Gesundheit und Krankheit.

Und diese Kräfte habe ich in meiner Studie herausgestellt: sie waren meist religiöser Art. Judentum, Islam und europäisches Denken haben gleichermaßen Anteil an dieser Schöpfung. Sie ging nicht nur gleichzeitig sondern sogar Hand in Hand vor sich, sowohl miteinander abgesprochen (Monotheismus, Anti-Chiliasmus, Gräberkultfeindlichkeit), als auch im Streit gegeneinander entwickelt. Eine Entstehung des Christentums auf europäischem Boden ohne die gleichzeitige Entwicklung des Judaismus und des Islam ist undenkbar. Freidenker und Aufklärer, Arianer und Manichäer haben denselben Anspruch auf Urheberschaft dieses ethischen Bewußtseins, das uns heute beflügelt.

Nach der Erstellung einer gemeinsamen Zeitrechnungstabelle hatten alle Beteiligten großes Interesse, diese auch durchzusetzen gegen andere Völker, die noch nicht bekehrt waren: gegen Inder und Chinesen usw.

Nach einigen Generationen wußten wohl nur noch wenige, wie luftig erfunden das ganze Gebäude war, und diese wenigen hatten vermutlich nicht die Absicht, das Gebäude einzureißen, da sie selbst zur herrschenden Gruppe gehörten. (Das ist heute genauso). Dadurch ging das Wissen um die Neuschöpfung schrittweise verloren, im Islam vollständig, im christlichen Abendland fast ganz (Sigrid Hunke hat unsere Aufmerksamkeit wieder auf diesen Punkt gelenkt). Die Jesuiten griffen nur Teile an, mehr war ihnen nicht möglich. Vielleicht wollten sie den Bau abstützen mit einer Vorwärtsverteidigung, die auch heute wieder bemerkbar wird: Das Vatikanische Konzil hat 1963 den Raum geöffnet, "Karteileichen" zu beseitigen. Aber dadurch wird der Bau erst recht abgestützt, nämlich ernst genommen, diskutiert und in Teilen anerkannt. Heute steht die erfundene Sicht der Geschichte des 1. Jahrtausends der Kirche so felsenfest in den Akademien, daß selbst Atheisten darauf schwören würden.

Damit ist auch gesagt, daß es unmöglich sein wird, die "tatsächliche" Geschichte des europäischen Raumes vor dem Jahr 1000 zu rekonstruieren, und daß alles, was wir darüber zu wissen glauben, schillernde Märchen sind.

Bleibt nur der Ruf an Berufene: Ring frei für die nächste Geschichtsschöpfung!

 

Nachtrag

Der russische Vorstoß

 

Von einem ganz sonderbaren Denkansatz, nämlich der unter rein statistischen Gesichtspunkten erstellten Geschichtsanalyse des Moskauer Mathematikprofessors Anatolij Fomenko, hat Christoph Marx seit einigen Jahren berichtet. (1992; Rezension bei Illig, ZS 2 - 1995; und Gabowitsch ZS 2 - 1997; eine deutsche Übersetzung durch Jähne und Hoffmann, HU Berlin, ist in Vorbereitung). Fomenko stellt die These auf, daß unsere gesamte Geschichtsschreibung von einer geringen Anzahl von ständig wiederkehrenden schematischen Motivgruppen und starren Herrscherlisten geprägt sei. Mit Hilfe von rein mathematischen Rastern erkennt Fomenko, wie unsere geschriebene biblische und christlich-abendländische Geschichte aus nur vier oder fünf Perioden besteht, die durch Rückverschiebung um jeweils verschieden große Zeiträume (333, 1053 und 1778 Jahre) penetrant wiederholt werden. Daraus ergibt sich der Eindruck, daß unser Geschichtsbild auf literarischen Motiven beruht, denen höchstens symbolischer Wert zugestanden werden kann. Das führt uns in populärer Weise kraß vor Augen, daß die abendländischen Geschichtsschreiber durchgehend voneinander abgeschrieben haben und sowohl die Bibel wie auch antike und mittelalterliche ‚Chroniken‘ mit einer ans Unwahrscheinliche grenzenden Häufigkeit fast identischer ‚Historien‘ angefüllt sind. Diese nicht mehr zufällige sondern offensichtlich gewollte Wiederholung einzelner Geschichtsabschnitte macht die Inhalte in höchstem Grade unglaubwürdig. Der Grundgedanke deckt sich mit manchen der hier vorgestellten Aufklärer, besonders mit Hardouins „System“, das die russischen Autoren eingehend zitieren.

Nikolaj Morosow, der russische Chemiker und Geschichtsforscher (1854-1946), auf den sich Fomenko hauptsächlich stützt, hatte die gesamte Darstellung der christlichen Ereignisse vor dem 4. Jahrhundert als Fälschung bezeichnet. So hatte er in seiner Schrift über die Offenbarung Johannis (deutsch 1912 mit Einleitung von Arthur Drews) die Abfassung dieses Buches auf 395 n.Chr. eingestuft. Aber auch das ist im selben Sinne naiv, vor allem, wenn er behauptet, an Hand der Sternstellungen, die in der Offenbarung des Johannes beschrieben werden, den genauen Tag der Abfassung dieses Buches errechnet zu haben: die Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober (julianischen Kalenders) des Jahres 395 n. Chr. Abgesehen davon, daß in der Offenbarung keinerlei wirkliche Sternstellungen beschrieben sind und die Astrologie dem Johannes ein Greuel war, wissen wir ja inzwischen, daß ein durchgehender Kalender, der eine Berechnung solcher Sternstellungen ermöglichen würde, nie existiert hat. Ganz zu schweigen davon, daß die Annahme einer stets gleichen Bewegung der Erde oder des Sternhimmels über anderthalb Jahrtausende hinweg nicht nachweisbar ist.

Zwischen Morosows romantischem Blick zu den Sternen und Fomenkos mathematischer Rastersuche klaffen dennoch Welten.

 

Neben Christoph Marx sind besonders Heinsohn und Illig als Zeitrekonstrukteure zu nennen. In der Nachfolge des russischen Wissenschaftlers Immanuel Velikovsky (1895-1979), der, als Psychoanalytiker in den USA arbeitend, mit mehreren Büchern in fundamentalistischer Manier den immer wieder nötigen Nachweis des hohen Alters und der absoluten Zuverlässigkeit der Mosesbücher wiederholen wollte, beschritten Heinsohn und Illig durch Rückkehr zu naturwissenschaftlichen Kriterien erfolgreich neue Wege in der Rekonstruktion des Geschichtsbildes. Ihre Hinwendung zu archäologischen Fakten sowie kritischer Untersuchung der bislang als echt angenommenen Dokumente führte zu neuen Ergebnissen: Die Chronologien fast sämtlicher Bereiche von der Menschwerdung bis zum Jahr 1000 n.Chr. müssen einer Revision unterzogen werden. Die Geschichte ist weitaus kürzer, als Bibel oder moderne Archäologen uns einreden wollten. Allerdings stehen Heinsohn und Illig trotz aller Kritik immer noch der blinden Schriftgläubigkeit Velikovskys nahe, indem sie die Bibel und die Kirchenschriftsteller (wie Euseb usw.) mit ihren Namenslisten ernstnehmen und nur die Jahreszahlen verschieben, die Reihenfolgen plausibler machen und das Ganze in Übereinstimmung mit archäologischen Funden zu bringen versuchen, ohne zu erkennen, daß diese Arbeit zu einer weiteren Fiktion führt, die ebensowenig Anspruch erheben kann, Fakten darzustellen.

Immerhin stellt ihre "evidenzbezogene" Methode die aufwendigen statistischen Untersuchungsergebnisse Fomenkos in Frage, weil dieser die Ergebnisse der Archäologie wenig in seine Raster einbezieht. Fomenko ist zudem in einem Maße buchgläubig, wie nur starre Monotheisten es sein können, hält deswegen auch stur am veralteten aktualistischen Prinzip der akademischen Geologie fest, was seine Verwendung des nicht hinterfragten Datengrundstocks der akademischen Lächerlichkeit preisgibt. Da er außerdem selbst den stereotypen Geschichtsdaten, die er meist nur aus verarbeitender Literatur entnimmt, Gewalt antun muß, um sie in seine mathematischen Raster zu pressen, wird seine Methode verdächtig. Dennoch hat sie bei Illig und seinen Kollegen zunächst Hoffnung auf einen frischen Denkansatz ausgelöst. Die Beschränkung Fomenkos auf zumeist russische und mitteleuropäische Literatur läßt leider wenig Spielraum, um weiterreichende Schlußfolgerungen zu ziehen. Was als Kritik an den Schablonen europäischer Geschichtsschreibung begann, wächst sich inzwischen zu einer mystisch gefärbten Fantasie goldener russischer Legenden für eine geschichtsunkundige gläubige Masse aus, die nur vor dem Hintergrund des Fehlens geisteswissenschaftlicher Bildung gesehen werden kann, wie es in Rußland seit mehr als zwei Generationen vorherrschend ist. Diese völlige Orientierungslosigkeit ist ein Extrem fundamentalistischer Buchgläubigkeit, wenn auch der eines Velikovsky diametral entgegengesetzt.

Christoph Marx besprach ausführlich Fomenkos mathematischen Ansatz im Kreis der Zeitrekonstrukteure (im Mai 1996 in Hamburg) und hob hervor, "daß die philologischen Quellen des ausgehenden 'Mittelalters' und der frühen Neuzeit - wie allgemein bekannt - praktisch von A bis Z als 'gefälscht' wahrgenommen werden müssen, wobei allerdings das dahinterstehende 'Unverfälschte' durchwegs versteckt bleibt und sich unserer Analyse bislang entzog." Es wäre jedoch "in der Regel verfehlt, in diesen Quellen, auf die wir uns nichtsdestoweniger angewiesen sehen, von ihren Urhebern in individuell bewußter Absicht gefälschte Darstellungen zu sehen und ihnen damit eigennützige Motive - anstelle kollektiver Neurosezwänge - zu unterstellen." (1996, S. 5). Damit wird nun schärfstens zum Ausdruck gebracht, daß es unmöglich sein wird, die tatsächliche Geschichte zu erforschen. Mit diesem im wesentlichen psychoanalytischen Erklärungsmuster wird die Chance einer annähernd wirklichkeitsbezogenen Geschichtsforschung verschüttet.

 

Diskutiert diesen Artikel im Forum (1 Antworten).