"Neue Chronologie" nach der Ansicht von "Neue Zürcher Zeitung"

Der Forummitglied "CD" hat auf einen Artikel aufmerksam gemacht (unter diesem Link gibt es auch eine Besprechung).

CD: "Ein erfrischend neutraler Bericht zum Phänomen des "Fomenkismus" (wenn auch nur aus aktuellem politischen Anlass):"www.nzz.ch/feuilleton/ein-mythos-fuer-ru...ld.131745#kommentare Um diesen Artikel nicht für uns verloren gehen würde, kopiere ich diesen Text auf unserer Webseite.
Bemerkung: Es wurde keine Gestattung für diese Veröffentlichung bei dem Autor und der Zeitung angefragt, d.h., dieser Artikel wird auf berechtigte Forderungen sofort entfernt.
 
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Ein Mythos für Russland
 
Die Krim wird zur «heiligen Erde» stilisiert
 
von Felix Philipp Ingold30.11.2016, 16:57 Uhr
Um den Machtanspruch Russlands auf die Krim zu stützen, schrecken linientreue «Historiker» vor wilden Geschichtsspekulationen nicht zurück. Ziel ist eine Umschreibung der abendländischen Chronologie.
Als Präsident Wladimir Putin die völkerrechtswidrige «Heimholung» der Krim nachträglich in einer programmatischen Rede zur Lage der Nation mit der Begründung rechtfertigte, die Halbinsel im Schwarzen Meer sei für Russland «so heilig wie der Tempelberg für jene, die sich zum Judentum oder zum Islam bekennen», und demzufolge habe sie «grosse zivilisatorische und sakrale Bedeutung – jetzt und für immer», fragten sich manche Beobachter, was es mit dem «Tempelberg» und dessen «sakraler» Bedeutung wohl auf sich habe.

Da Putin den heiligen Berg «der Russen» implizit mit dem jüdisch-muslimischen Jerusalem verglich, war davon auszugehen, dass er die Krim, in Ergänzung und im Gegensatz dazu, nicht nur als Teil des früheren sowjetischen Staatsterritoriums, sondern auch – ihrer einstmals tatarischen Bevölkerungsmehrheit zum Trotz − als ursprüngliches christliches Glaubenszentrum für Russland zurückgewinnen wollte. Da nun aber die Krim in der Topografie der christlichen Heilsgeschichte bekanntlich nicht figuriert, bleibt offen, weshalb der zwar kirchennahe, politisch aber betont säkulare Präsident so viel Wert darauf legte, ein nationales Heiligtum «heimzuholen», von dem kaum ein Russe jemals gehört hat. Oder doch?

Jesus auf der Krim geboren

Auf einer kremltreuen russischsprachigen Website wird gegenwärtig unter der Losung «Die Krim ist unser» eine anonyme Meldung kolportiert, wonach jüngste Forschungsergebnisse darauf schliessen lassen, «dass Jesus Christus auf der Krim geboren wurde». Nähere Angaben (Quellen, Autoren) zu dieser angeblich sensationellen Entdeckung bleiben der Leserschaft vorenthalten. Die Kernaussage der Nachricht besteht darin, Christus habe im 12. Jahrhundert unter dem Namen Andronik auf der Krim gelebt, ebenso seine Mutter Maria, die bis zu ihrem Tod dem dortigen (bis heute erhalten gebliebenen) Uspenski-Kloster angehört habe.

Was hier als wissenschaftliche Erkenntnis herausragender russischer «Gelehrter» propagiert wird, lässt sich auf ein Moskauer Forschungsteam zurückführen, das unter der Leitung des Mathematikers Anatoli Fomenko seit geraumer Zeit an einer «neuen Chronologie» arbeitet, welche die überlieferte Weltgeschichte vermittels modernster Verfahren und Techniken – angefangen bei chemischen oder physikalischen Altersbestimmungen bis hin zu statistischen und astronomischen Berechnungen – weitgehend falsifizieren soll.

Inzwischen hat Fomenko mit enormem Aufwand an Personal, Kapital und sonstigen Ressourcen ein Kartell geschaffen, dessen Zielsetzung darin besteht, den «Fomenkismus» und damit eine völlig neue Geschichtsauffassung weltweit durchzusetzen. Dies soll erreicht werden (und wird auch schon seit Jahren praktiziert) mithilfe der russischen Medien, mit unzähligen wissenschaftlichen und populären Publikationen, mit Propagandafilmen sowie Vorträgen und Interviews, die zu Dutzenden auf Youtube abzurufen sind.

Die These beziehungsweise Hypothese von der Krim als dem «russischen» Heiligen Land ist eine von vielen, die Fomenko, seine Mitarbeiter und Adepten mit grossem Nachdruck hochhalten und dokumentarisch zu belegen versuchen. Die diesbezüglichen Forschungsergebnisse liegen seit 2009 in Form einer Monografie vor, die auch noch einmal die zentrale Lehrmeinung der Fomenkisten fokussiert, laut der die europäische Geschichte um rund ein Jahrtausend zu kürzen, die Antike auszublenden und der Beginn des «christlichen» Zeitalters (damit auch der «biblischen» Geschichte) auf die Zeit um 1100 zu datieren ist.

Zweifellos bezieht sich Putin, wenn er die Krim als russischen «Tempelberg» in Anspruch nimmt, implizit auf diese «neue Chronologie», die keineswegs nur Christus und pauschal das Christentum nach Russland «heimholt», sondern überhaupt die grossen Kulturleistungen und Staatsbildungen der eurasischen Welt dem Russentum zuschreibt.

«Wahre Geschichte Russlands»

Dass sich unter dieser Voraussetzung auch die «vaterländische» russische Geschichte (Christianisierung, «Tatarenjoch», Machtübernahme des Hauses Romanow usw.) völlig neu darstellt, liegt auf der Hand − für den Fomenkismus steht fest, dass sie im 18. Jahrhundert von einer Handvoll deutscher Historiker im Auftrag des Zarenhofs systematisch gefälscht und danach entsprechend fortgeschrieben wurde. Diese «Fälschung» zu entlarven und «richtigzustellen», gehört zu den hauptsächlichen Anliegen der neuen Moskauer Chronisten, die offenkundig im Sinn und im Interesse der aktuellen russländischen Staatsideologie operieren, ohne sich allerdings direkt mit der Kremlführung gemein zu machen oder gar propagandistisch für sie einzutreten.

Die «neue Chronologie» setzt nicht nur pauschal die gesamte «westliche» Russland-Forschung, sondern auch die althergebrachte zaristische und die sowjetkommunistische Geschichtsschreibung dem Verdacht systematischer Falsifikation aus. Der Fomenkismus nimmt für sich in Anspruch, in ausschliesslich wissenschaftlicher Absicht, mit strengster, zugleich umfassendster wissenschaftlicher Methodik sowie breitester wissenschaftlicher Dokumentation die «Wahre Geschichte Russlands» und damit die «Slawische Eroberung der Welt» (zwei fomenkistische Buchtitel) unwiderlegbar dargetan zu haben.

Byzanz als das «wahre Jerusalem» (mit dem Garten Gethsemane und dem Hügel Golgatha, von denen in Palästina keine Spur zu finden sei) soll der Ort von Jesu Hinrichtung gewesen sein. Fomenko glaubt aufgrund seiner mathematischen und astronomischen Berechnungen die Lebensdaten des Heilands exakt mit 1053 bis 1086 angeben zu können (wodurch zumindest das überlieferte Sterbealter Jesu, 33 Jahre, bestätigt wäre).

Hinzugefügt wird, dass Jesus Christus keineswegs ein Kind armer Leute gewesen sei, dass er vielmehr der griechisch-slawischen Oberschicht angehört habe und vermutlich als vertriebener Potentat vom Mob gesteinigt worden sei. Die diesbezüglichen fomenkistischen Erwägungen und Behauptungen laufen darauf hinaus, den Begründer des Christentums als historische Gestalt dem heiligen Russland zuzuordnen.

Die «neue Chronologie» versetzt auch zahlreiche andere biblische Gestalten sowie Landschaften und Legenden in den «russländischen» Kulturraum − sie seien in alten byzantinoslawischen Schrift-, Bild- und Bauwerken unzweifelhaft, wenn auch stark verfremdet wiederzuerkennen.

Schwer nachvollziehbar

Fomenko und sein Forschungsteam an der Moskauer Staatsuniversität haben zur Bekräftigung der «neuen Chronologie» eine überwältigende Fülle von Indizien und Beweisstücken aus allen eurasiatischen Kulturen zusammengetragen und diverse wissenschaftliche Methoden zu deren Datierung und Ausdeutung entwickelt. Die so gewonnenen historischen Erkenntnisse werden vorzugsweise in Form von Statistiken und Diagrammen zur Darstellung gebracht, so dass man als Leser einerseits mit höchst ungewöhnlichen, wenn nicht sensationellen Thesen konfrontiert ist, anderseits mit einem kaum durchschaubaren Wust von mathematischen und physikalischen Formeln.

Das eine wie das andre vermag durchaus zu faszinieren, regt zu kritischer historischer Besinnung an, derweil das Welt- und Geschichtsbild der «neuen Chronologie» fundamentale Zweifel aufkommen lässt. Dass laut Fomenko die gesamte bisherige internationale (vorab die westeuropäische) Historiografie eine grosse «Fiktion», mithin durchweg «unwissenschaftlich» oder «pseudowissenschaftlich» sein soll, ist schwerlich nachvollziehbar, vollends, wenn man sich überlegt, wie und von wem und in welchem Interesse diese Fiktion über Jahrhunderte hätte koordiniert, aufrechterhalten und stetig erweitert werden können.

Die Tatsache, dass Wladimir Putin heute mit Rückgriff auf die «neue Chronologie» einen russischen Macht- und Gebietsanspruch gegenüber der Krim geltend macht, ist Beleg genug für die politische wie auch propagandistische Wirkkraft dieses «retrospekulativen» Denkens, gleichgültig, ob es sich auf eine historische Fiktion, eine Fälschung oder eine mathematisch beglaubigte Zeitrechnung bezieht.

Felix Philipp Ingold hat jüngst die Monografie «Das russische Duell: Kultur- und Sozialgeschichte eines alten Rituals» (Wilhelm Fink) sowie eine Neuübersetzung von Fjodor Dostojewskis «Aufzeichnungen aus dem Abseits» (Dörlemann) vorgelegt.