Von der Notwendigkeit einer „neuen Chronologie“

Als Steuerzahler kann es mir nicht völlig egal sein, was die Historiker im öffentlichen Dienst an den Universitäten und in den Museen so alles treiben. Ich würde erwarten, daß wenigstens einige von ihnen so etwas wie Grundlagenforschung betreiben, und zwar in eigener Sache. Im Prinzip müßten ja alle Wissenschaftszweige ab und zu mal zurückblicken und sich fragen, ob die Axiome und Theoreme, auf denen sie aufbauen, eigentlich (noch) stimmen. Die Physiker und Chemiker, die Biologen und all die anderen Naturwissenschafter machen das meistens nicht oder nur ungern. Man ist ja nicht Historiker; und man gewinnt damit auch nie einen Nobelpreis! Experimente mit der schiefen Ebene sind etwas für die beschauliche Schulstunde und können den ambitionierten Wissenschafter nicht aus der Reserve locken, zumal wenn andernorts eine prestigeträchtige Stelle an einem renommierten Institut für Teilchenphysik lockt. Der Physiker kann sich zudem beruhigen, indem er sagt: Wenn es begründete Zweifel etwa an den Fallgesetzen gäbe, dann könnten die entsprechenden Experimente jederzeit unter strengsten Bedingungen wiederholt werden.

Wie steht es nun aber mit dem Historiker? Der Historiker kann sich nicht damit herausreden, daß ihn die Vergangenheit nicht interessiere, denn diese ist definitionsgemäß sein ureigenstes Wirkungsfeld. Nun umfaßt aber die Vergangenheit im allgemeinen alle „Vergangenheiten“ im besonderen – so auch die Vergangenheit der Geschichtsschreibung selber. Den Historiker dürfen also nicht nur die vergangenen Lebensäußerungen der „anderen“ interessieren, sondern ebenso müßte er sich mit den vergangenen Werken seiner eigenen Zunft befassen, seinen geistigen Wurzeln – immer wieder und immer wieder von neuem!

Noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben sich die Historiker ernsthaft um diese Grundlagen bemüht, so auch in der „Hilfswissenschaft“ der Chronologie. Der meines Wissens letzte Versuch, den Stand der Chronologie in einem Standardwerk zusammenzufassen, leistete Ginzel mit seinem „Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie“ (1906-14).

Seither gab es – zumindest im deutschsprachigen Raum - keine ernsthaften Versuche mehr, den jeweils neuesten Stand der Erkenntnisse auf eine neue Basis zu stellen oder überhaupt nur umfassend darzustellen. Ginzel, der hauptberuflich Astronom war, nennt im Vorwort zum 3. Band auch gleich den Grund dafür (allerdings als Hoffnung auf einen Aufbruch zu neuen Horizonten in der Wissenschaft der Chronologie geäußert...): „So mancher Leser, der nach früherer Anschauung gewöhnt war, in der Chronologie nur eine Hilfswissenschaft der Geschichte zu sehen, wird verwundert sein wahrzunehmen, welch große Ausdehnung und Vertiefung die einzelnen Gebiete der Chronologie im Laufe der letzten fünfzig Jahre gewonnen haben. Die ‚Chronologie’ ist eben zu einem selbständigen Zweige der wissenschaftlichen Forschung herangewachsen wie so manche von den neueren Disziplinen, die aus der Pflege der Altertumswissenschaften entstanden sind. Meines Erachtens verdient die Chronologie jetzt ebenfalls eine besondere Pflege in Anbetracht des Umstands, daß für die Interessenten die Beherrschung der chronologischen Spezialgebiete gegenwärtig schon schwer möglich ist und von Jahr zu Jahr schwieriger wird.“

Wird an irgendeiner deutschsprachigen Uni chronologische Grundlagenforschung betrieben – oder wird nur der Stand einer „Hilfswissenschaft“ von vor hundert Jahren in Vorlesungen immer gleichen Inhalts perpetuiert? Der „Ginzel“ war der neue „Ideler“ seines Zeitalters, und dies war auch die erklärte Absicht Ginzels: nämlich den schon seit mehreren Gelehrten-Generationen in Gebrauch stehenden „Ideler“ durch ein neues, aktuelle Forschungsergebnisse und moderne Methoden berücksichtigendes Handbuch zu ersetzen.

Unterdessen trennen uns von Ginzel mehr Jahre als zwischen ihm und Ideler lagen. Und inzwischen verfügen wir über Mittel und Methoden, von denen Ginzel nur träumen konnte – und die er gewiß gern eingesetzt hätte, wenn er sie gehabt hätte. Welches Werk könnte heute von sich behaupten, daß es der neue „Ginzel“ sei?

Ginzel war nicht der altsprachlich versierte Historiker des klassischen Typs, sondern er war ein Astronom mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Hintergrund. Für ihn war klar, daß die moderne Chronologie hauptsächlich auf naturwissenschaftlicher Grundlage neu fundiert und weiterentwickelt werden mußte. Aber es war ihm damals noch nicht möglich, sich völlig von den klassischen Vorgaben zu trennen. Auch er setzt letztlich den Ereigniszeitstrahl voraus, wie er seit den Anfängen der frühneuzeitlichen Chronologie ab etwa 1600 fast unverändert bis heute tradiert ist.
Daß nun ein Nicht-Historiker, ja gar ein Naturwissenschafter mit Sachkompetenz in eine von den Historikern sorgsam gehütete Kerndomäne eindrang, konnte einerseits Hoffnungen auf einen Neuanfang geweckt haben, aber anderseits auch als Warnschuß für die Pfründenbewahrer aufgefaßt worden sein.

Ginzels Hoffnung, daß die Chronologie eine eigenständige Wissenschaft werden könnte, hat sich nicht erfüllt. Nebst der unglücklichen weltgeschichtlichen Entwicklung nach 1914, die Deutschland nicht nur als politische Macht, sondern auch als Standort von Kultur und Wissenschaft in die zweite Liga verbannte, hat vor allem ein Umstand die Emanzipation der Chronologie als eigenständige Wissenschaft verhindert: die zunehmende Spezialisierung in Fachidiotengebiete, die einer zu etablierenden „neuen Chronologie“ als per se interdisziplinärer Wissenschaft überall das Wasser abgegraben hat.

Was aus der Chronologie als autonomer Wissenschaft hätte werden können, zeigt als singuläre Randerscheinung die Person Otto Neugebauers, der in einer langen Schaffensperiode (ca. 1930-1980) als Mathematiker und Wissenschaftshistoriker (Brown University, Rhode Island) einige bedeutende Artikel zu chronologischen Fragen publizierte (zusammengestellt in: „Astronomy and History“, New York 1983).

Neugebauer hatte als echter Forscher und unabhängiger Denker keinerlei Scheu, seine Beobachtungen mit klaren Worten zu äußern: „If one had only to rely on methodology, one would date Peurbach, Regiomontanus, Brahe, and Kepler in the century following Ptolemy“ (in „On some aspects of early greek astronomy“, 1971).

Natürlich war er aufgrund seines humanistischen Bildungshintergrundes noch nicht so weit, die möglichen weiteren Konsequenzen eines solchen Befundes auszudrücken: daß es nämlich in Wahrheit genau so gewesen sein könnte! Er mag sich aber bei der Niederschrift der zitierten Feststellung seine Sache gedacht haben...

Nun sind wieder einige Jahrzehnte ins Land gegangen, und die kleinen geschichtswissenschaftlichen Revolten, die von Illig in Deutschland und von Fomenko in Rußland angezettelt bzw. angeführt wurden, scheinen von den etablierten Historikern endlich niedergeschlagen worden zu sein. Der Ausgang des Kampfes ist aber weniger eine Folge der Argumente als vielmehr der Ausdruck der realen Machtverhältnisse: Auf einen Chronologiekritiker, der seine Forschungen in seiner Freizeit und auf eigene Kosten und Risiken betreibt, kommen wohl 1000 auf Staatskosten in den Schützengräben ihrer Spezialgebiete sich verschanzende Historiker und Hilfshistoriker (C14/Dendro), die ihre Privilegien um jeden Preis zu verteidigen versuchen (was übrigens die meisten von uns Kritikern auch täten, wenn sie an deren Stelle wären...).

Vielleicht wäre damals in den Achtzigern, etwa im Gefolge des berühmten „Fälschungskongresses“ der Hauptharst der jungen Historiker bereit gewesen, auf die geschichts- und chronologiekritische Schiene zu wechseln. Man war vielleicht sogar schon daran, diesbezüglich Pöstchen und Forschungsetats zu verteilen. Aber da kamen auch schon ganz schnell und ungerufen die wissenschaftlichen Außenseiter wie Illig u.a., die das Thema wohl publikumswirksam, aber auch effekthascherisch und zudem chaotisch und natürlich „unwissenschaftlich“ zu beackern begannen. Niemand hat es gern, wenn ungebetene Gäste sich vom gedeckten Tisch an den Köstlichkeiten bedienen, die eigentlich für die eigene Klientel reserviert war... Die Reihen der zunächst aufgeschreckten Historiker schlossen sich alsbald!

Inzwischen wurde zwischen den verfeindeten Parteien so viel Geschirr zerschlagen, daß sich praktisch kein namhafter Historiker mehr erlauben kann, chronologiekritisches Gebiet auch nur zu betreten. Dazu kommt, daß die „CK-Szene“ von obskuren Gesellen unterwandert wurde, denen geschichtlicher Revisionismus aus ganz anderen als mittelalterlichen Gründen ein Anliegen war. Und auch die vielen im Gefolge der Geschichtskritik aufwallenden Fantasien mit esoterischem oder verschwörungstheoretischem Hintergrund waren für die Etablierten nicht gerade vertrauenerweckend... Geschichts- und Chronologiekritik wurden zu einer schmuddeligen „no-go-area“!

Was bleibt als Fazit? Wer wirklich ernsthaft „Chronologiekritik“ betreiben und den Weg beschreiten will, den Ginzel im Auge hatte und den Neugebauer einsam und ohne Breitenwirkung gegangen ist und auf dem Fomenko – wohl aufgrund einer zwielichtigen religiös-politischen Einflußnahme – letztlich doch gescheitert ist, der muß vor allem eines tun: er muß das Wort „Kritik“ aus seinem Wortschatz streichen, wenn er in den Gärten der Geschichte weidet. Er muß den groben Zweihänder des Widerspruchs und der Negation aus der Hand legen. Nicht im Sinne eines versöhnlichen Friedensangebots an die etablierten Historiker, sondern aufgrund der Einsicht, daß auf dem Feld der neuen Chronologie nicht die Waffen der „schlagkräftigsten“ Argumente im gehässigen Kampf für oder gegen altgediente Pfründe gefragt sind, sondern die harte Arbeit des Wissenschafters, welche die Historiker seit 100 Jahren nicht mehr leisten wollen oder können. Das zweischneidige Schwert ist hierfür nicht das geeignete Werkzeug!

Es geht nicht darum, auf Biegen und Brechen die Geschichte „neu“ zu schreiben, es geht nur um den Vorrang der Frage, die letztlich alle denkenden Menschen interessiert: nämlich was der Mensch ist und woher er kommt – mithin seine Stellung und sein Werdegang in Zeit und Raum! Um dieser wichtigen Frage unvoreingenommen und unbeeinflusst nachgehen zu können, braucht es eine "neue Chronologie" - als eigenständiger Zweig einer "neuen universalen Wissenschaft".

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